Aus der Reihe: Der große Minister. Hykels wundersame Visionen und Taten
Ein schmaler Wolkenstreifen zieht vor den Mond. In der Ferne knattert ein Garagentor, ein Hund bellt. Der blaue Ninja, der Rächer der Verratenen, zieht seine Maske über den Kopf. Wie ein Schatten bewegt er sich lautlos von einem Strauch zum nächsten, schiebt sich weiter hinter einen Baum, späht hervor. Alles ruhig. Im ersten Stock der Villa brennt noch Licht. Über ihm auf dem Ast eine Eule, nur sie sieht, wie sich der Schatten hinter dem Baum hervorbewegt, über den Rasen schleicht und wie eine Katze die Säule hinaufklettert. Geschmeidig schwingt er sich über das Mäuerchen der Terrasse, duckt sich, geht langsam zur Mauer und schaut vorsichtig durch die Terrassentür in den hell erleuchteten Raum. Und tatsächlich. Ein nackter Menschenknäuel wälzt sich im Bett, hier ein Kopf, da ein Bein, eine Brust, ein Arm und auf einem Hintern ruht der Kopf von Kunz, der ihn erregt und verzückt mit leerem Blick entgegenstarrt. Voll Ekel wendet der Ninja sich ab, presst sich an die Wand, atmet tief durch und blickt in den von einem dunklen Wolkenband verdeckten, schwach schimmernden Mond. Hab ich‘s nicht gewusst, eine Sexorgie, denkt er sich, und nimmt seine Pocketkamera aus der Tasche. Mit einem weiteren kurzen Blick checkt er den Raum – im Eck ein Glastisch mit Flaschen von Wein und Champagner und ein flacher, schwarzer Teller mit riesigen Linien aus weißem Pulver. Das sind bestimmt Drogen, schießt es ihm durch den Kopf. Jetzt hab’ ich ihn. Das muss ich fotografieren.
„Hykel. Mein lieber Hykel.“
Der Ninja dreht sich um. Wer ruft mich? Niemand weiß, dass ich hier bin. Im Raum hektische Bewegungen, eine Flasche zerklirrt am Boden.
„Hykel!“
Die Terrassentür öffnet sich. Der nackte Kunz steht vor ihm: „Sie? Sie schon wieder!“, ruft er und hält sich ein Champagnerglas vor sein Glied.
„Wachen Sie auf, Hykel. Das Ministerium hat angerufen.“
Hykel riss seinen Kopf in die Höhe. „Was ist passiert? Hat er mich erwischt?“
„Niemand hat Sie erwischt, mein Hykel. Ich glaub‘, Sie sind eingeschlafen. Eine Dame vom Ministerium hat gerade angerufen. Sie haben ihre olivgrüne Uniformjacke und ihre Kriegspanzer-Modellsammlung vergessen und in Ihrer Schreibtischschublade liegen noch ein paar Handspiegel und der ‚Cool guy‘-Haarfestiger. Sie fragt, ob Sie das in die Parteizentrale schicken soll?“
„Ach so, eingeschlafen. Mein lieber Goldi, Sie werden es nicht glauben, sogar in meinem Traum hat er uns erwischt?“
„Wer?“
„Dieser Kunz. Ich hasse ihn. Sie wissen gar nicht, wie sehr ich ihn hasse. Wenn ich den erwische. Ich mach’ ihn fertig.“ Dann zog er seine Lippen auseinander, dass seine Zähne hervorblitzten, und knurrte wie ein Wolf. „Ich hetze den Falter auf ihn …“
„Sie müssen sich beruhigen, mein Hykel. Nicht, dass es Ihnen so geht wie dem Strunz. Er hält sich mittlerweile für den Messias, weil er sich geopfert hat. Um den großen Bevölkerungsvertausch zu verhindern …“
„Kein Wort über Strunz mehr in meiner Nähe. Wie oft habe ich dir das schon gesagt? Der wird es sich gut überlegen, wen er das nächste Mal auf Urlaub mitnimmt. Warum werde ich nie zu den aufregenden Treffen mitgenommen? Warum muss ich von den besten Partys immer aus dem Fernsehen erfahren? Bin ich ihm zu wenig cool, hip oder scharf?“
„Mein lieber Hykel. Sie sind der schärfste. Aber Sie sollten weiter an ihrer Abschiedsrede schreiben. Sie wollten sie doch heute Abend den Menschen präsentieren. Um 19:45, live auf FPÖ TV.“
„1945 … damals hat es mit dem Ende angefangen“, murmelte der ehemalige große Minister und blickte auf die Uhr. Eine Stunde hab’ ich ja dann noch, dachte er sich. Es wird Zeit für die Reinschrift.
Er schwang sich vom Sofa, verhedderte sich mit dem linken Fuß im Stromkabel der altmodischen Stehlampe und stützte sich gerade noch auf dem schmalen Beistelltischchen ab. Fast hätte er den beachtlichen Papierstoß, um den sich zerknüllte Zettel drängten, vom Tisch gefegt, doch Goldi reagierte souverän und fixierte beide mit festem Griff.
„Mein lieber Hykel“, sagte er mit väterlicher Stimme, „sammeln Sie sich und diese Konzepte.“ Und er wies gütig auf den erstbesten Zettel, auf dem hastig umkreiste Worte mit zackigen Linien verbunden waren.
Hykel beugte sich sichtlich zufrieden über sein Werk und lächelte. „Goldi, das ist der Clou. Hier öffne ich dem Volk die Augen. Der hinterfotzige Kunz als heimlicher Politkommissar der linken Achse des Bösen. Oder soll ich ihn vielleicht doch eher Apparatschnikbolschewik nennen? So mit ganz vielen Zischlauten.“
„Hykel, bei diesen Wortspielen hatten Sie früher dem Volk doch auch passgenau aufs Maul geschaut. Was ist nur los mit Ihnen?“ Goldi entknäulte eine Papierkugel und hielt sie Hykel entgegen. „Hier zum Beispiel. ‚Kunz’ Gift ist linksversifft.‘ Das find’ ich genial. Oder hier …“, und Goldi bewegte die Papierknäuel wie bei einer Tombola-Ziehung, „‚Treu wie ein Ritter im Linksgewitter.‘“
„Goldi, natürlich ist das die Wahrheit. Bitter und ungeschminkt. So wie früher. Doch jetzt ist das alles nur Ausschuss, da dieser …“, Hykel sammelte sich kurz und schluckte tief, „Kunz und seine tiefrote Bagage alle Systemmedien kontrollieren, braucht es hier einen philosophischen Zugang, der im Gegensatz zu diesem charakterlosen, infamen …“ Hykel blinzelte irritiert in ein gleißendes Licht, da Goldi den zuvor losgerissenen Lampenstecker wieder eingesteckt hatte. Neben einer trostlosen Neonröhre und einem Notausgangsschild stellte die Stehlampe die einzige Lichtquelle in dem provisorischen Kleinbüro dar, in welches sich Hykel neuerdings immer öfter zurückzog. Hykel hatte die kleine Fensterluke behelfsmäßig mit einem alten Plakat aus dem Präsidentschaftswahlkampf verdeckt und auch sonst auf jeglichen Luxus, vor allem technischer Art, verzichtet. Die kühle Kargheit wurde von dem schmalen Sofa und der aussortierten Stehlampe nochmals unterstrichen.
Hykel rang mit den Worten. „… infamsten Putsch einer linkslinken Jagdgesellschaft mit dem altersschwachen Präsidenten als Oberförster. Ja, der dieser Sauerei eine Philosophie entgegenhält, die sie einfach nicht ignorieren können. Das alles, die ganzen Papierknäuel, das war einmal. Die heutige Rede …“
Goldi deutete auf seine Armbanduhr und mahnte zur Eile: „Mein lieber Hykel, können Sie sich erinnern, beim letzten Mal wurd‘s dann doch ziemlich eng mit der Maske, dem Stylisten und dem Barbier. Heute sollte alles perfekt sein.“
Hykel nickte dankend und warf sein Sakko über die Schulter. „Kommen Sie, ich habe veranlasst, dass im Studio ein paar Häppchen bereitstehen, und übrigens, das sage ich ihnen als Philosoph und Altphilologe, Krise bedeutet ja auch Neuanfang“, flüsterte er Goldi zu, während er vorfreudig den Weg ins Studio antrat.