MALMOE

Wa(h)re Identität

Lea Susemichel und Jens Kastner unterziehen Identitätspolitiken einer grundsätzlichen Kritik und versuchen ihre Rettung

Dieses Buch ist eine Freude und wirft zugleich ein wenig Unmut auf. Eine Freude ist es, weil es gut geschrieben ist, sei es vom Stil her wie auch hinsichtlich der inhaltlichen Bandbreite und politischen Umsichtigkeit. Die Begriffsgeschichte von „Identität“ wird von ihren politischen, philosophischen, soziologischen und psychologischen Wurzeln her aufgerollt. Dezidiert positioniert sich das Buch politisch links und widmet sich dem Versuch, linke Identitätspolitik gründlich zu kritisieren, um sie zu retten. Der erste Schritt, die Kritik, ist sehr umfassend konzipiert: Arbeiterbewegung, Frauenbewegung, Bürgerrechtsbewegung, Black Liberation, Feminismus, Cultural Studies und Queer Theory werden abgehandelt und Theorie und Praxis verknüpft. Besonders der Bezug auf die konkrete Praxis ist immer wieder wohltuend und macht das Buch für Theoretiker- und Praktiker_innen wertvoll.

Der zweite Schritt, die Rettung, scheint auf den ersten Blick auch gelungen: Die Problematiken und Grenzen des Identitätskonzeptes – Essenzialismus, Konstruktion des Anderen/Fremden, Homogenisierung nach innen, Wahrheitsanspruch und Ablehnung anderer Positionen und ähnliches mehr – werden eloquent und schlüssig dargelegt. Somit sollten alle Gefahren identifiziert sein und einer positiven Nutzung von „Identität“ nichts mehr im Wege stehen. Um jedoch diesen Schritt mitzugehen, stehe ich wohl Adorno zu nahe. Auch diesen bemühen die Autor_innen und schaffen es sogar, ihn positiv für das Identitätskonzept zu vereinnahmen: Bedingung der Freiheit, ist Identität unmittelbar zugleich das Prinzip des Determinismus, zitieren sie ihn aus der „Negativen Dialektik“ (Identitätspolitik: 37). Adorno gerade in diesem Werk eine positive Auffassung von „Identität“ abringen zu wollen, scheint mir mehr als gewagt, um nicht zu sagen falsch. Einige Sätze vorher heißt es bei diesem: „Im Gleich um Gleich ihrer quantifizierenden Methode ist so wenig Raum für das sich bildende Andere wie im Bann von Schicksal. Was sich jedoch in den Menschen, aus ihren Reflexen und gegen diese, objektiviert hat, Charakter oder Wille, das potentielle Organ der Freiheit, untergräbt auch diese. Denn es verkörpert das herrschaftliche Prinzip, dem die Menschen fortschreitend sich unterwerfen.“ (Negative Dialektik: 216) Dann folgt der von den Autor_innen angeführte Satz.

So kommt es dazu, dass Adorno als Kronzeuge für „Identität“ herhalten muss, wo er doch die Bedingungen blinder Herrschaft kritisiert, die uns erst zu dem ganzen Einteilungswahn hinführen. Wir kommen somit zu einem zentralen Schritt einer kritisch-psychologischen Analyse: der Funktionskritik von Begriffen. Eine wichtige Frage, die im Buch leider nicht gestellt wird, ist die Funktion des Identitätsbegriffes unter den herrschenden Bedingungen. Wie sind diese gestaltet, dass alle ihre eigene Identität (die immer eine kollektive ist) haben sollen und wollen? Es wird im Buch zwar wiederholt auf den diskursiven und konstruierten Charakter von „Identität“ hingewiesen, trotzdem wird am Begriff und seinem wie auch immer gearteten Inhalt festgehalten. Dabei handelt es sich bei „Identität“ aber doch um einen Fetisch, der nicht imstande ist, die Widersprüche der Realität zu erkennen, geschweige denn zu lösen, sondern ihre Erscheinung darstellt.

„Identität“ ist wie eine Währung, ein Zeichen für ein Weltverhältnis, in dem nur Einteilung und Verwertung gilt. Wenn mensch gegen Kapitalismus ist, sollte mensch auch gegen die kapitalistische Warenform und ihre Erscheinung, das Geld, sein. Gleichzeitig brauchen wir Geld, um uns in der kapitalistischen Welt reproduzieren und teilhaben zu können. Gleichermaßen brauchen wir in einer identitären Welt Identität, da wir sonst von so gut wie allen Interaktionen und Institutionen ausgeschlossen sind. Nur weil das so ist, muss ich aber nicht versuchen, „Identität“ (oder das Geld) als Form zu retten, indem ich herausarbeite, was gut daran ist. Ich kann Geld dafür benutzen, etwas (Gutes) zu erreichen, aber ich muss es nicht gut finden, dass es „die Welt regiert“. Gleichermaßen können durch Identitätskämpfe viele Verbesserungen erreicht werden, wie die Autor_innen durchgängig dokumentieren. Trotzdem muss ich die Identitätsform nicht als Ausdruck „meiner Selbst“ (oder „unserer selbst“) bzw. als wahr erkennen. Auch diese Erkenntnis taucht immer wieder kurz auf, z. B. beim strategischen Essenzialismus von Spivak (80), verschwindet aber leider wieder.

Identität ist unsere Währung, unser Tauschwert, durch sie bekommen wir Zugänge, Anerkennung, Wert – und wir bewerten uns gegenseitig. Ich denke, dass hierin die große Sehnsucht nach Identität in unserer durchkapitalisierten Welt liegt, sie ist die Subjektivitätsform, die den elenden Bedingungen entspricht. Dieser fundamentale Zusammenhang zwischen (kapitalistischer) Herrschaft und Identität wird in Susemichels und Kastners Buch leider nicht gezogen. Nichtsdestotrotz ist das Buch wärmstens zu empfehlen und es ist ja, in den Worten der Autor_innen, „Identitätspolitik […] eben erst ein Anfang.“ (140)

Lea Susemichel, Jens Kastner: Identitätspolitiken: Konzepte und Kritiken in Geschichte und Gegenwart der Linken, Unrast, Münster 2018