Während die Bedeutung des Sich-Enthaltens im deutschen Sprachgebrauch ihre Kehrseite, das Halten an etwas, verdrängte, erhielt sich diese glücklicherweise im Englischen. Denn um sich etwas zu enthalten, bedarf es bekanntermaßen eines festen Vorsatzes. Wenden wir dieses Spannungsverhältnis zwischen Enthalten und Halten nun an. Enthält sich während des Fastens ein Mensch beispielsweise der Aufnahme von Nahrung generell oder auch nur bestimmter Nahrung, baut dieses individuelle Verhalten auf einer gesellschaftlichen Norm auf. Die teilweise oder totale Verweigerung der Nahrungsaufnahme stellt dabei Individuum und Gesellschaft in einen machtvollen Zusammenhang. Denn mit der verweigerten Nahrung wird die Reproduktion des individuellen Lebens selbst ausgesetzt, in letzter Konsequenz der mögliche Tod des Individuums hingenommen. Damit ist noch nichts über die Motivation zu fasten ausgesagt, doch ob gesundheitliche, religiöse oder politische Motive den Anlass geben, ein struktureller Zusammenhang bleibt in jedem Fall maßgeblich. Einiges mutet absurd an, so wenn das Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens den Verzicht auf Erbsen oder Bohnen empfiehlt. Da diese den Elben gehörten, würde ihr Verzehr zu bestimmten Zeiten Ausschläge oder eine „elbische Verwirrung“ bei den Konsument*innen hervorrufen. Andere Beweggründe scheinen nachvollziehbarer, etwa wenn politische Gefangene in den Hungerstreik treten und so mit dem Enthalten von Nahrung Forderungen an eine Gesellschaft festhalten. Beide Varianten verdeutlichen die notwendige gesellschaftliche Einbettung. So bedarf es in jedem Fall einer Vermittlung zwischen individuellem Verhalten und gesellschaftlicher Norm. Ist diese Vermittlung nicht gegeben, kann auch nicht mehr von einem Fasten gesprochen werden. Exemplarisch zeigt dies Franz Kafka in seiner Erzählung Ein Hungerkünstler. Steht dessen Hungern im ersten Teil der Geschichte noch unter strenger Beobachtung des Publikums, fehlt im zweiten Teil jegliches Interesse an seiner Kunst zu hungern. In Konsequenz stirbt der Hungerkünstler an den notwendigen Auswirkungen seines Verhaltens. Denn die Reproduktion seines Lebens war kein gesellschaftliches Interesse mehr, noch je sein individuelles gewesen. Dies sagt viel über Kunst aus. Zugleich entwickelt Kafka hier das Problem eines Individuums, welches sich der Gesellschaft selbst enthält und sich damit zwangsläufig die eigene Lebensgrundlage entzieht. Eine Vermittlung der Interessen bleibt also in jedem Fall notwendig, da sich jede Gesellschaft letztlich aus Individuen zusammensetzt.
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