Es steht schlecht um den Anarchismus, wenn er sich repressiver, moralischer Vorgaben bedienen muss, um auf die Wirkung zu hoffen, die er ohnehin nicht hat. Die neue Ausgabe der „dissensorientierten Zeitschrift“ Tsveyfl macht dies deutlich.
Es hat sich in den letzten Jahren immer wieder gezeigt, dass anarchistische Projekte den Anspruch, in die Gesellschaft zu wirken, aufgeben. Stattdessen geben sie sich der Illusion hin, sie könnten innerhalb klar abgesteckter Räume die Wirkung gesellschaftlicher Zurichtung per Kommando aufheben. Die Praktiken, die sich aus dieser Illusion ergeben, haben einige strukturelle Ähnlichkeiten mit konservativen Moralismen. Es fehlt jedoch bisher an Analysen dieser Konstellation aus Ideen und Praktiken, denn ihren AnhängerInnen erscheint sie als der selbstverständliche Weg zur Emanzipation. Wenn es nur gelänge, alle so zu disziplinieren, dass sie keine „Herrschaft“ mehr über ihr unmittelbares soziales Umfeld ausüben, dann müsste das Ergebnis ja gesamtgesellschaftliche Freiheit sein. Freiheit bedeutet hier lediglich die Abwesenheit von Zwang und Gesellschaft wird nur als Summe der Individuen verstanden. Dass Eigentumsverhältnisse eine Rolle spielen könnten, gerät genauso aus dem Blick wie die Kritik institutioneller Herrschaft.
Um diese Konstellation aus Praktiken und Ideen begrifflich fassbar zu machen, haben wir sie in der neuen Ausgabe von Tsveyfl Neomoralismus genannt. Diese Bezeichnung soll die strukturelle Nähe zu konservativen Moralismen erkennbar machen, aber auch verdeutlichen, dass der Neomoralismus keine reine Fortsetzung derselben ist. Vielmehr konstruieren sich Teile der antiautoritären Linken ihren Moralismus von Grund auf neu und kommen doch mit ihren eigenen Mitteln zu einem Ergebnis, das den konservativen Moralismen an Repression in nichts nachsteht. Dabei gehen wir davon aus, dass das Auftreten neomoralistischer Ideen und Praktiken kein intrinsischer Effekt anarchistischer Organisierung ist. Es ist vielmehr die Hybridisierung des Anarchismus mit Theorien aus dem Spektrum des Poststrukturalismus, der statt gesellschaftlicher Verhältnisse individuelle Beziehungen in den Fokus rückt und damit der Moralisierung politischer Fragen Vorschub leistet. Diese Verschiebung aktualisiert sich in anarchistischen Versuchen der Organisation von „Freiräumen“ und gemeinschaftlicher Handlungsfähigkeit überhaupt. Das Ergebnis sind dann Gemeinschaften von sich gegenseitig überwachenden SektiererInnen, deren Absicht vorrangig darin besteht, sich vom Rest der Welt so weit wie möglich abzuschotten.
Wir wollen allerdings nicht bloß bei der Untersuchung der sehr spezifischen Phänomene des Neomoralismus stehen bleiben, sondern auch das weitere Verhältnis von Anarchismus und Moral in den Blick nehmen.
Moral als Analyseinstrument
Es ist nicht so, als wäre Moral kein Thema des Anarchismus – moralische Fragen lassen sich nicht einfach aus der politischen Analyse ausschließen. Diese naive Annahme verkennt, dass Moral ein vorwiegend repressives Mittel ist, welches sich durch alle Spektren des gesellschaftlichen Überbaus zieht. Ebenso naiv ist es jedoch, auf die Unzumutbarkeiten der Gesellschaft mit moralischer Empörung zu reagieren oder die tatsächliche Einhaltung der bürgerlichen Moral einzufordern. Anschließend an den jugoslawischen Marxisten Miladin Zivotic und den Anarchisten Peter Kropotkin konstatieren wir im Heft, dass die Auseinandersetzung des Anarchismus mit der Moral vielmehr ex negativo erfolgen muss. Nicht aus der einfachen Umkehrung der moralischen Normen, sondern Moral und Ethik begriffen als negative Analyseinstrumente. Diese können dazu dienen, die Begrenztheit und den repressiven Charakter bürgerlicher Moral und neomoralistischer Heilsversprechen aufzuzeigen. Ein Aspekt des Anarchismus ist Moral also als negative Moral, insofern sie zur „revolutionären Verneinung der Vergangenheit“ (Bakunin) beiträgt und die Verbindung zwischen ökonomischer Struktur und politisch-kulturellem Überbau reflektiert. Was sie dabei keinesfalls kann, ist aufzuzeigen, welche gesellschaftlichen Normen in einer postkapitalistischen Gesellschaft zu etablieren wären. Insofern beschränkt sich das anarchistische Interesse an moralischen und ethischen Fragen auf ihre negative Wendung.
Im neomoralistischen Anarchismusbegriff verhält es sich genau andersrum. Unter Anarchismus wird nur noch eine Handlungsweise verstanden – also „anarchistisches“ und „unanarchistisches“ Verhalten, was sich nach dem binären Schema von „gut“ und „böse“ strukturiert. So wird Anarchismus zum moralischen Kompass für soziale Alltagspraxen – bei dessen Kalibrierung auf „Gesellschaft“ und „Ökonomie“ als Analysekategorien von vornherein verzichtet wurde. Deren Veränderung oder gar Überwindung spielen nicht nur keine Rolle mehr für eine anarchistische Utopie, sondern können gar nicht mehr begrifflich erfasst, d. h. gedacht werden.
Die aktuelle Ausgabe der Tsveyfl geht nicht nur der Frage nach, was das sowohl für die Realität als auch die Möglichkeiten anarchistischer Theorie und Praxis bedeutet, sondern sucht nach den Ursachen dieser Entwicklungen und – auch hier ex negativo – den Ansatzpunkten, diese zu verändern.