Innerhalb von drei Jahren brachte Maduro erst die Judikative unter seine Kontrolle, schaltete dann das Parlament aus und vereitelte zuletzt freie und faire Präsidentschaftswahlen. Damit hat er Venezuela zu einer autoritären Diktatur gemacht.
Ausgangspunkt für die jetzige Verfassungskrise waren die Parlamentswahlen im Jahr 2015. Zu diesem Zeitpunkt herrschte bereits große Unzufriedenheit mit der Amtsführung Maduros und der wirtschaftlich desolaten Lage des Landes. Die oppositionellen Parteien nutzten die Stimmung und schmiedeten ein breites Wahlbündnis, mit dem sie zwei Drittel der Parlamentssitze gewinnen konnten. Maduro – er war damals noch der rechtmäßige Präsident – stand damit ein oppositionelles Parlament gegenüber, das insbesondere seine Person in Frage stellte. Um den drohenden politischen Machtverlust zu verhindern, schlug er einen autoritären Kurs ein.
Zugriff auf die Judikative
Wie auch in anderen Staaten, die in den letzten Jahren zunehmend autoritärer geworden sind, ist in Venezuela das höchste Gericht erstes Opfer der autoritären Wende geworden.
In Anbetracht der sich 2015 ankündigenden Wahlniederlage traten aus ungeklärten Gründen überraschend 31 Richter*innen des Tribunal Supremo de Justicia zeitgleich von ihren Ämtern zurück. Damit konnte das Gericht neu besetzt werden. Das alte chavistisch dominierte Parlament schaffte es jedoch nicht mehr rechtzeitig, die Richterernennung durchzuführen, und trat deswegen noch einmal zusammen, als die Wahl zum neuen Parlament bereits stattgefunden hatte. In dieser dubiösen außerordentlichen Sitzung verletzte es zudem alle erdenkbaren Verfahrensgrundsätze. Die Besetzung des Gerichts wird daher von der Opposition zu Recht als verfassungswidrig betrachtet.
Die loyalen „Expressrichter“ entscheiden seitdem konsequent zu Maduros Gunsten und sind sich auch für offensichtliche Rechtsbeugungen nicht zu schade. Vor kurzem behauptete ein in die USA geflohener Richter, das Gericht erhalte vor jeder politisch relevanten Entscheidung einen Anruf aus dem Präsidentenpalast.
Ausschaltung der Legislative
Nachdem von der Judikative nichts mehr zu befürchten war, wurde auch das Parlament auf verfassungswidrige Weise entmachtet. Das nunmehr hörige Verfassungsgericht spielte hierbei sogar eine entscheidende Rolle. Es suspendierte zunächst Abgeordnete der Opposition wegen angeblicher Wahlunregelmäßigkeiten, die nie rechtskräftig festgestellt wurden. Dann erklärte es alle Beschlüsse und Gesetze des Parlaments mit fadenscheinigen Argumenten für nichtig.
Maduro etablierte derweil ein Notstandsregime, das es ihm ermöglichte, per Dekret zu regieren. Das Recht des Parlaments, Notstandsverordnungen aufzuheben, missachtete er. Um sich trotzdem auf eine parlamentsähnliche Institution stützen zu können, rief er Ende 2017 illegal eine Verfassungsgebende Nationalversammlung ein. Die Wahlmodalitäten, die er selbst festgelegt hatte, verschafften ihm einen derart offensichtlichen Vorteil, dass der Opposition nichts anderes übrig blieb, als die Wahl zu boykottieren. Das Maduro treu ergebene Gremium etablierte sich nach der Wahl schnell als Parallelstruktur. Es stellte sich über das Parlament, erließ repressive Gesetze und hob die Immunität von besonders unliebsamen Abgeordneten der Opposition auf.
Keine freien Wahlen
Maduro hat es schließlich auch unmöglich gemacht, einen friedlichen Regierungswechsel durch Wahlen herbeizuführen: Schon 2016 verschleppte die ihm treu ergebene Wahlbehörde ein nach der Verfassung eigentlich zulässiges Abwahlreferendum, das die Opposition initiiert hatte. Zweifel an Maduros demokratischer Legitimation sind also schon ab diesem Zeitpunkt berechtigt.
Spätestens seit dem 10. Januar 2019, dem Ende seiner ersten Amtszeit, ist sein demokratisches Mandat jedoch mit Gewissheit passé. Die Wiederwahl, mit der er sich zu legitimieren versucht, war keine demokratische Wahl. Maduros Verfassungsgebende Versammlung zog den Wahltermin mehrere Monate vor und überraschte damit potenzielle Gegenkandidaten. Das Verfassungsgericht schloss kurze Zeit später das Oppositionsbündnis, das die Parlamentswahlen 2015 mit weitem Abstand gewonnen hatte, von der Präsidentschaftswahl aus und selbst diejenigen Außenseiterkandidaten, die sich trotz der unfairen Bedingungen mit leisen Hoffnungen auf die Wahl einließen, sprachen danach von Wahlbetrug – darunter der Ex-Chavist Henri Falcón Fuentes.
Parlamentarischer Widerstand
Das Parlament hat mit allen ihm zu Verfügung stehenden Mitteln versucht, der Abschaffung von Rechtsstaat, Gewaltenteilung und Demokratie etwas entgegenzusetzen. Unter Berufung auf die Verfassung tagte es weiterhin, ernannte turnusmäßig neue Parlamentspräsidenten und erließ Beschlüsse und Gesetze. Darüber hinaus bildete es sogar ein alternatives Verfassungsgericht, das im Exil zusammentritt. Obwohl all diese Maßnahmen von der Exekutive nicht beachtet wurden, blieben sie nicht wirkungslos: Nur weil die Opposition konsequent auf der Verfassung beharrte, bildet diese weiterhin einen zentralen Referenzpunkt für das politische Geschehen. So kann das Parlament jeden neuen Verfassungsbruch der Regierung beklagen und die Bevölkerung zu Massenprotest aufrufen.
Außerdem nutzte es seine verfassungsrechtliche Argumentation geschickt, um an das Militär zu appellieren. Wiederholt forderte es dieses dazu auf, die Verfassungsordnung wiederherzustellen, wenn auch bisher ohne Erfolg.
Für Maduro ist die Situation trotzdem äußerst misslich. Da die Verfassung ein zentrales Vermächtnis von Chavez darstellt, fällt es ihm nicht leicht, diese auch formal abzuschaffen. Sein konsequent verfassungswidriges Agieren mobilisiert aber nicht nur seine Gegner*innen, sondern kostet ihn auch Rückhalt in den eigenen Reihen.
Dafür ist die Zeit auf seiner Seite. Ende 2020 läuft die reguläre Legislaturperiode des Parlamentes aus. Da die Regierung voraussichtlich wieder einen Weg finden wird, die Opposition von der Wahl auszuschließen, dürfte diese dann die unbestrittene Kontrolle über das Parlament verlieren. Kann die Opposition Maduro jedoch kein verfassungsrechtlich abgesichertes Mandat entgegenhalten, wird es für sie auch schwieriger, mit der Verfassung zu argumentieren. Vielleicht agiert sie auch deswegen zunehmend kompromissloser.
Guiadó als Übergangspräsident
So stellte der Parlamentspräsident Juan Guaidó am 23. Januar 2019 auf einer Kundgebung fest, die Kompetenzen des Präsidenten seien mit dem illegalen Amtsantritt Maduros auf ihn übergegangen. Er legte einen Amtseid ab und erklärte, Ziel der Übergangspräsidentschaft sei es, Maduro loszuwerden und Neuwahlen zu organisieren. Wiederum appellierte er auch an das Militär. Von außen betrachtet wirkte dieser kühne Vorstoß unvermittelt. Tatsächlich war er aber genau mit dem Parlament abgestimmt.
Weil Maduro am 10. Januar vereidigt werden sollte – entgegen der Verfassung nicht vor den gewählten Abgeordneten, sondern vor dem Verfassungsgericht –, beriet das Parlament am 8. Januar darüber, welche Gegenmaßnahmen zu ergreifen seien. Bereits in dieser Debatte wurde die Idee geäußert, einen Übergangspräsidenten zu benennen. Der Präsident des im Exil tagenden Verfassungsgerichts forderte Guaidó daraufhin in einem öffentlichen Brief auf, die Interimspräsidentschaft zu übernehmen. Das Parlament erließ schließlich am 15. Januar einen Beschluss, mit dem es Guaidó juristisch absicherte.
Putsch oder Sturz?
Nach allem was wir wissen, hat sich Guaidó im Rahmen dieser Entwicklung auch mit seinen internationalen Verbündeten abgesprochen, unter anderem den USA. Dabei zeigte sich eine wohl vor allem strategisch motivierte Nähe zur US-Regierung. Trump erkannte Guaidó unmittelbar nach dessen öffentlicher Vereidigung am 23.01. via Twitter an. Beobachter hat das irritiert. Gerade auch in linken Medien deuteten viele das Geschehen daraufhin als Putschversuch.
Der Begriff ist jedoch denkbar unpassend. Von einem Putsch sollte grundsätzlich nur dann gesprochen werden, wenn eine Regierung auf verfassungswidrige Weise des Amtes enthoben wird. Das Parlament hat allerdings schon in seinem Beschluss vom 15. Januar eine Rechtfertigung für sein Vorgehen entwickelt, die sich auf die Verfassung stützt. Es argumentiert wie folgt:
Indem Maduro sich zu einer zweiten Amtszeit vereidigen lasse, verstoße er gegen die Verfassung. Schließlich sei er nicht demokratisch gewählt. Seine Präsidentschaft könne daher gemäß Artikel 138 nicht anerkannt werden und gelte als nichtig. Die Verfassung treffe aber keine ausdrücklichen Aussagen darüber, wie in diesem Fall zu verfahren sei. Am ehesten weise Artikel 233 einen Weg. Dieser Artikel, den das Parlament analog anwenden will, sieht vor, dass die Exekutivgewalt auf den Parlamentspräsidenten übergeht, sollte der gewählte Präsident der Republik das Amt nicht ausüben oder antreten können. Den Analogieschluss, also die Anwendung einer Norm auf einen vergleichbaren Fall in Ermangelung einer Regelung, hält das Parlament unter anderem deswegen für zulässig, weil Artikel 333 der Verfassung alle Staatsbürger*innen dazu verpflichtet, die verfassungsgemäße Ordnung wiederherzustellen, sollte sie von einer ausländischen oder inländischen Macht abgeschafft worden sein.
Diese Argumentation ist erstaunlich überzeugend, zieht man in Betracht, dass die Verfassungsordnung seit beinahe vier Jahren erodiert. Welche Verfassung hält für so eine Konstellation schon Regelungen bereit?
Doch selbst diejenigen, die dem nicht folgen wollen und keine verfassungsrechtliche Grundlage für die Übergangspräsidentschaft sehen, sollten sich vor dem Begriff Putsch hüten. Wir müssen in der Lage sein, begrifflich zu unterscheiden zwischen der gewaltsamen Absetzung einer demokratisch legitimierten Regierung und dem Sturz eines autoritären Herrschers. Bei all den negativen Konnotationen, die das Wort Putsch mit sich bringt, ist es für den ersten Fall zu reservieren. Da Maduro sicherlich nicht demokratisch legitimiert ist, sondern – wie dargelegt – eine Autokratie errichtet hat, kann er nicht weggeputscht, sondern nur gestürzt werden.
Hiermit ist freilich nichts darüber gesagt, wie das Agieren der USA und anderer Regierungen zu bewerten ist. Es ist gut möglich, dass es völkerrechtswidrig war, Guaidó als Präsidenten anzuerkennen. Auch die Androhung einer Militärintervention lässt sich sicherlich nicht rechtfertigen. In dieser Hinsicht ist strikt zwischen der internationalen und der innerstaatlichen Perspektive zu unterscheiden. Aus venezolanischer Sicht aber gilt: Der Widerstand ist legal und legitim.