Gestörtes Störendes (#9)
Aus gesundheitlichen Gründen war mein heuriges Silvester familiär und klein und einfach zuhause. Es war eines der besten Silvester der letzten Jahre. Das brachte mich dazu, über die vergangenen Neujahrsevents nachzudenken. Besonders eines stach da hervor. Wir waren bei Freund_innen eingeladen zu einer Party, wo klar war, dass wir kaum jemanden kennen würden. Wir haben uns schließlich darauf eingelassen, wohl auch dem Gefühl folgend, zu Silvester muss mensch unter Leute, was erleben, lustig sein. Letztendlich haben wir einen ziemlich lauen Abend verbracht. Ich konzentrierte mich auf einen linken Verlagsredakteur, interessierte mich für ihn, hörte zu, fragte nach, schenkte ihm Aufmerksamkeit. Es schien so, als fühlte er sich wohl in seiner Haut, als er von seinen Projekten erzählte, seine Meinungen zu Politik und Gesellschaft teilte. Nach zwei Stunden wusste er von mir gar nichts, da er sich nicht einen Augenblick lang für mich interessiert hatte. Hätte ich irgendeinen Mehrwert für ihn gehabt, z. B. jemand Wichtiger sein, in einem Feld brillieren, in welchem er sich unterlegen fühlt (also eine Bedrohung darstellen) oder in irgendeiner anderen Weise interessant für ihn sein, dann hätte er mich wohl ein paar Dinge gefragt oder ein Gespräch begonnen.
In der Kritischen Psychologie unterscheiden wir zwischen intersubjektiven Beziehungen – wo es um ein gegenseitiges Ergründen und Verstehen der eigenen Handlungsgründe und jener der anderen geht, in all ihren Widersprüchlichkeiten – und instrumentellen, wo mich die andere Person nur wegen eines Aspektes/Ausschnittes interessiert und nicht als Person. Eben wegen ihres Mehrwertes. Die von mir geschilderte Situation entspricht eindeutig der zweiten Kategorie. Dieser Typ interessierte sich schlichtweg nicht für mich. Und ich unternahm auch keine Anstrengungen, mich für ihn interessant zu machen. So saß er auf seinem Hocker, erzählte von sich und seinen Erfolgen, stellte politische Diagnosen, teilte Analysen und er wurde von den anderen einbezogen, gefragt, hofiert und natürlich auch mit Schmähs bedacht, wie es sich gehört in Wien. Ein sehr guter Freund erzählte mir von einem Silvestererlebnis, das sehr gut hierher passt. Bei einem Event, ausgerechnet bei sich zuhause, kippte das Desinteresse daran, womit er sich seit Jahren wissenschaftlich beschäftigt, zu später Stunde sogar in ein Verächtlich-Machen und buchstäblich in Aggression. „An dem Ort, an dem ich mich eigentlich sicher fühlen sollte, wurde ich angegriffen und gedemütigt“, meinte er sinngemäß zu mir.
In der einen Situation geht es darum, was ich von der anderen Person haben kann – zum Beispiel Informationen, Anerkennung, Zugänge, Interesse –, in der anderen um die Abwertung des anderen und die damit einhergehende Erhöhung von sich selbst. In beiden Fällen nehme ich die andere Person nicht in ihren Interessen wahr und ernst, sondern sie ist mir Mittel zum Zweck. Auch in der Linken begegnet uns somit ein zwischenmenschliches Muster, das zwar für den Kapitalismus typisch ist, aber älter als dieser ist, wie uns z. B. Horkheimer und Adorno anhand ihrer Analyse der Odyssee schon zeigen konnten.
Dieser Umstand führt dazu, dass auch in „der Linken“ das politische Ziel mehr gilt als die zwischenmenschliche Beziehung. Auch in „der Linken“ pflegen wir die „Marke Ich“, mit all dem Neid, der Konkurrenz und Missgunst, die dazugehört. Gleichzeitig bilden wir uns ein, gegen das System zu sein und „alternativ“ zu leben und zu handeln. Anstatt uns in unserer Verletzlichkeit, Bedürftigkeit, Widersprüchlichkeit, Verwundetheit, Ratlosigkeit zu zeigen, schmeißen wir uns in den Wettbewerb, wer der Belesenste, die Linkeste, der politisch Korrekteste, die Engagierteste, der Kritischste usw. ist, und verstecken unsere Unzulänglichkeiten hinter unseren Schutzschilden. Während wir also von gerechten Welten, Anarchismus, Kommunismus oder was auch immer reden und träumen, stricken wir weiter an Konkurrenz und Vereinzelung.