MALMOE

Komplexe Fehlersuche

Die Ursachen der venezolanischen Krise, die Einmischung von außen und das Versagen der chavistischen Regierung

Wenn man über die aktuelle Krise in Venezuela spricht, sollte man zwei Dinge stets im Kopf behalten. Erstens, die geopolitischen Interessen. Venezuela weist mit 25 Prozent des weltweiten Vorkommens die größten Erdölreserven der Welt auf. Hinzu kommen noch große Mengen an Bodenschätzen wie Gold, Bauxit und andere Rohstoffe.

Zweitens stellt der Chavismus nicht nur eine Parteizugehörigkeit oder eine Regierung dar. Die Bolivarische Revolution ist zwar zum Teil ein Regierungsprojekt, Chavismus bezeichnet jedoch darüber hinaus eine politische Strömung, die durch viele Basisorganisationen getragen wird und durch ihre täglichen Kämpfe und Debatten lebt.

Politische Konflikte, Gewalt und Druck von außen

Nach dem knappen Gewinn der Präsidentschaftswahlen 2013 sah sich Nicolás Maduro sowohl mit internen als auch externen Widerständen konfrontiert. Die Opposition sprach wie so oft von Wahlbetrug, es kam zu Ausschreitungen mit mehreren Toten und die Politik der USA gegenüber Venezuela verschärfte sich nochmals. Aber auch innerhalb der Regierungspartei PSUV musste er sich gegen andere Machtgruppen durchsetzen.

In Hinblick auf die zahlenmäßige Unterstützung in der Bevölkerung, befand sich das Oppositionsbündnis Tisch der demokratischen Einheit (MUD) zu diesem Zeitpunkt auf einem Höhenflug . Für sie war klar, dass der Moment gekommen war, die Regierung schnellstmöglich abzusetzen. Ein Jahr später riefen mehrere Vertreter der Opposition zur Kampagne „La Salida“ (Der Ausweg) auf. Im Zuge der Demonstrationen und der sogenannten Guarimbas, Straßenbarrikaden und bewaffneten Ausschreitungen kamen nahezu 50 Personen ums Leben. Spätestens in diesem Moment begann ein Kampf der Bilder. Fake News machten die Runde und bei jedem Toten wurde darum gestritten, welche Seite die Verantwortung trage. Die USA und die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union stellten sich auf die Seite der Opposition und unterstützten diese finanziell und logistisch. Im Jahr 2015 erklärte Barack Obama Venezuela zu einer außergewöhnlichen Gefahr für die USA und machte damit den Weg frei für schärfere Sanktionen gegen das Land und gegen Einzelpersonen.

Nachdem das Oppositions­bündnis die ­Parlamentswahlen 2017 mit einer Zwei-­Drittel-Mehrheit gewonnen hatte, kam es erneut zu Massenprotesten und bewaffneten Ausschreitungen. Kurze Zeit später entzog der Oberste Gerichtshof dem Parlament seine Befugnisse, da es bei den Wahlen zu Unregelmäßigkeiten gekommen sei. Seitdem ist das Parlament nicht beschlussfähig, da die Opposition den Ausschluss der vier betroffenen Parlamentarier (drei von der Opposition und einer der Regierung) ablehnt. Durch den Ausschluss würde die Opposition ihre Zwei-Drittel-Mehrheit verlieren. Die mehrere Monate andauernden Proteste forderten mehr als 120 Tote.

Durch die Ausrufung von Wahlen für eine verfassungsgebende Versammlung (ANC), an der die Opposition aus eigener Entscheidung nicht teilnahm, gelang es der Regierung eine neue, übergeordnete und omnipotente Institution zu schaffen, die nahezu vollständig von Regierungstreuen besetzt ist.

Es gab erneut Präsidentschaftswahlen, zu denen einige Oppositionsparteien sowie ihr Bündnis nicht zugelassen wurden. Andere zogen ihre Wahlbeteiligung aus freien Stücken zurück. Die MUD verweigerte gleichzeitig einer ihrer Parteien die Unterstützung für die Wahl, welche Maduro erwartungsgemäß gewann. Der eigentlich aussichtsreiche Oppositionskandidat Henri Falcón war chancenlos. Die meisten westlichen Staaten erkannten die Wahlen nicht an, obwohl ihr Ablauf und Ausgang wenig Anlass zur Kritik gaben. Kritikwürdig ist die Zeit vor der Wahl.

Die MUD löste sich 2018 formal auf, nachdem es schon 2017 deutliche Auflösungs­erscheinungen gegeben hatte. Bei mehreren Verhandlungsrunden mit der Regierung unter internationaler Beteiligung konnten sich die Mitglieder des Bündnisses auf keine gemeinsamen Positionen einigen. Unter anderem hierin liegt auch ein Grund, dass die Opposition momentan jegliches Gesprächsangebot der Regierung zurückweist.

Verfehlte Wirtschaftspolitik und die Rolle der Sanktionen

Das in hiesigen Medien gesponnene Narrativ von dem Land mit den größten Erdölreserven der Welt, welches in bitterer Armut lebt, ist platt und wird in keiner Art und Weise den vielschichtigen Ursachen gerecht. Vielmehr wird die Krise allein auf die Unfähigkeit der Regierung geschoben. Über den Einfluss von z. B. wirtschaftlichen Sanktionen und Blockaden hört man zumeist nur sehr wenig.

Venezuelas Wirtschaft und Deviseneinnahmen hängen seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs an den Erdöleinnahmen. Zeitweise wurden über 90 Prozent der Devisen aus den Erdölexporten erwirtschaftet. Eine angestrebte Diversifizierung der Wirtschaft ist bisher keiner Regierung gelungen. In Venezuela wird viel vom Segen und gleichzeitigem Fluch des Erdöls gesprochen: In Boomzeiten gibt es keine Notwendigkeit andere Wirtschaftszweige zu fördern und bei einem Verfall des Barrelpreises sind die Einnahmen zu niedrig, um neue Industrien aufzubauen.

Präsident Hugo Chávez versuchte zwischen 1999 und 2013 dieses Dilemma zu lösen und führte einen festen Wechselkurs ein und wertete so die Landeswährung stark auf. Darüber sollten Kapitalflucht erschwert und Importe angekurbelt werden. Dies sollte zum einen der Bevölkerung einen preiswerten Zugang zu vielen Produkten ermöglichen und zum anderen Maschinen und Know-how ins Land bringen, um verarbeitende Industrien aufzubauen. Durch mangelnde Kontrolle und Institutionalität florierte jedoch schon bald der Schwarzmarkt und die billigen Lebensmittel schufen starke Korruptionsanreize. Offizielle Zahlen der Regierung sprechen davon, dass zeitweise ein Drittel aller Lebensmittelimporte direkt in die Nachbarstaaten geschmuggelt wurde. Die Gewinnspannen waren so hoch, dass eine effektive Korruptionsbekämpfung von Anfang an zum Scheitern verurteilt war.

Des Weiteren konnten nationale Produzenten nicht mit den Preisen der importierten Waren mithalten, was viele letztlich in den Ruin trieb. Das Ziel der Diversifizierung und der Unterbindung von Kapitalflucht ist damit schlussendlich ad absurdum geführt worden. Kritische Teile des Chavismus sprechen davon, dass über 300 Milliarden US-Dollar im Korruptionssumpf in den letzten 15 Jahren verschwunden seien.

Als 2014 der Erdölpreis zu fallen begann, fehlten die hohen Einnahmen, um die Verluste ausgleichen zu können, und so kam es zu einem Mangel an verschiedenen Gütern. Gleichzeitig traten die ersten Sanktionen gegen die venezolanische Wirtschaft in Kraft und die internationalen Ratingagenturen stuften Venezuela auf Ramschniveau herab. Internationale Geldgeber waren somit für die venezolanische Regierung unerreichbar. Zahlungen an ehemalige Kreditgeber sorgen nach wie vor für weitere Löcher im Staatshaushalt.

Die US-Regierung sprach 2015 davon, dass man die venezolanische Wirtschaft „erdrosseln“ werde, um einen Regierungswechsel zu ermöglichen. Seit der Wahl Donald Trumps haben die wirtschaftlichen Sanktionen gegen Venezuela bedeutend zugenommen. Mehrere Konten sind eingefroren, internationale Überweisungen sind praktisch unmöglich, da sich auch z. B. europäische Banken an die Sanktionen gebunden fühlen. Die Bank of England hält venezolanische Goldreserven im Wert von einer Milliarde US-Dollar zurück, Transportunternehmen wie z. B. Iberia weigern sich Güter nach Venezuela zu fliegen.

Neben einer verfehlten Wirtschaftspolitik und dem starren Festhalten an selbiger sind also auch die internationalen Sanktionen ein bedeutender Faktor für die aktuelle Verschärfung der wirtschaftlichen Krise im Land.

Linke Kritik an der Regierung

Die Regierung spricht von einem ökonomischen Krieg gegen das Land und weist Kritik an ihr damit zurück. Selbstkritik aus den eigenen Reihen, ehemaliger Minister oder Basisorganisationen wird viel zu selten gehört und häufig als „Verrat“ betrachtet. Des Weiteren veröffentlicht die Regierung seit 2013 keine Armutsstatistiken, nur sporadisch Inflationsstatistiken, die Kindersterblichkeitsrate etc. Es gibt wenig offizielle Berichte über den Zustand innerhalb der Gesellschaft, selbst für einstige Vorzeigeprojekte. Gleichzeitig wird von höchsten Stellen das Ausmaß der wirtschaftlichen und politischen Krise negiert.

Auch gegen eine erstarkende Fraktion von chavistischen Gruppen, die Kritik üben und teilweise Gegenkandidaten aufstellen, wehrt sich die Regierung. So z. B. bei der Wahl zum Bürgermeisteramt in Caracas, als der ehemalige Minister Eduardo Samán antrat und mit fragwürdigen Mitteln seine Chancen auf eine Wahl eingeschränkt wurden. Dennoch sprach Samán davon, im Falle eines Konfliktes um das Fortbestehen der chavistischen Regierung nicht gegen Nicolás Maduro antreten zu wollen und hinter dem Präsidenten zu stehen. Die partizipative und protagonistische Rolle, die den Basisorganisationen lange Zeit zukam, ist in den letzten Jahren immer mehr in den Hintergrund getreten. Stattdessen wurde die Rolle der Institutionen gestärkt, was auch zu Kritik, wenn auch leiser, von der Basis führte.

Eine Maßnahme der Regierung, die Auswirkungen der Krise auf die Bevölkerung abzuschwächen, war die Einführung der sogenannten CLAPs. Diese Lebensmittelpakte erreichen etwa 80 Prozent der Bevölkerung und sind zu einer wichtigen Grundlage der Versorgung geworden. Gleichzeitig gibt es bei der lokalen Verteilung immer wieder Schwierigkeiten und Korruption.

Nicolás Maduro hat mehrmals davon gesprochen, in koordinierten Aktionen mit der UNO Hilfsgüter ins Land zu lassen, und Kooperationen mit Russland und China bringen Lebensmittel und Medikamente. Die Blockadehaltung der USA verhindert allerdings darüber hinausgehende Maßnahmen.

„Humanitäre Hilfe“ für einen Regierungswechsel

Vor diesem Hintergrund muss man die jüngste Aktion des selbsternannten Interimspräsidenten Guaidó sehen. Die von ihm bezeichnete „humanitäre Hilfe“, welche von USAID (United States Agency for International Development) bereitgestellt wurde, ist in erster Linie ein politisches Manöver. Unter dem Deckmantel der Humanität stecken politische Interessen. So haben sich das Rote Kreuz und die UNO verbeten, den Begriff humanitäre Hilfe zu verwenden, da diese nur partikularen politischen Interessen entspricht.

Die Tatsache, dass nach der Selbstausrufung Juan Guaidós zum Interimspräsidenten die USA ihn sofort anerkennen und wenige Tage später auch das Europaparlament sowie mehrere Staaten der EU, ist ein Bruch mit dem Völkerrecht und eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten Venezuelas. Dies hat z. B. auch der wissenschaftliche Beirat des deutschen Bundestages so festgestellt und sich damit eindeutig gegen die Entscheidung der deutschen Bundesregierung positioniert.

Guaidó wird seit 2007 von den USA aktiv, etwa mit Stipendien, unterstützt. Einer seiner engsten Vertrauten erhielt außerdem Fördergelder von einer halben Million US-Dollar. Er repräsentiert zweifellos die Interessen der USA. Durch seine Selbsternennung und die internationale Anerkennung hat sich der Konflikt im Land deutlich zugespitzt. Das Säbelrasseln der verschiedenen Akteure, die auch offen die Option einer militärischen Intervention aussprechen, wird nicht zu einer Verbesserung der Lage der Bevölkerung beitragen.

Die Forderung nach Neuwahlen unter internationaler Aufsicht würde die Legitimität der venezolanischen Institutionen festigen, ist aber unter den aktuellen Voraussetzungen illusorisch. Denn selbst wenn es zu Wahlen kommen sollte, ist es mehr als fragwürdig, ob diese in einem Klima der Angst vor einer militärischen Intervention, internationalen Sanktionen, Ultimaten durch die EU etc. überhaupt fair sein können.

Die Krise in Venezuela kann nur intern gelöst werden mit einem Dialog aller beteiligten nationalen Gruppen. Das schließt vor allem auch die Basisorganisationen des Chavismus ein, die zum einen ihre Regierung gegen äußeren Druck verteidigen und zum anderen politische und ökonomische Forderungen stellen. Nur unter diesen Bedingungen können freie und faire Wahlen garantiert werden. Inwiefern die Regierung bereit ist, auf die Forderungen ihrer Basis einzugehen, steht auf einem anderen Blatt.

Es steht außer Frage, dass in den 20 Jahren chavistischer Regierung viele Fehler gemacht worden sind und sich seit der Wahl von Nicolás Maduro sowohl die politische als auch die wirtschaftliche Situation deutlich verschlechtert hat. Die Fehler dabei aber nur auf einer Seite zu suchen, wird den komplexen nationalen und internationalen Interessen nicht gerecht.