Um die aktuellen Ereignisse in Venezuela einordnen zu können, bedarf es eines Blickes auf die politische Ökonomie des Landes
Als sich Juan Guaidó am 23. Januar 2019 zum Interimspräsidenten Venezuelas erklärte, erreichte der Kampf um das Erdöl in Venezuela eine neue Eskalationsstufe. Der Rechtsruck in der politischen Landschaft Lateinamerikas und die seit Kurzem offenkundige Unterstützung der Regierung von Donald Trump für eine militärische Intervention in Venezuela verschafften der venezolanischen Opposition den nötigen Rückenwind, um gegen die Regierung von Nicolás Maduro zu putschen. Trotz spürbaren Unbehagens gegenüber dem Vorgehen und den Versprechen von Guaidó gestaltet sich eine solidarische Haltung gegenüber der venezolanischen Regierung im Globalen Norden auch für SympathisantInnen zunehmend schwierig. Zu autoritär ist der Kurs von Präsident Nicolás Maduro geworden, zu offensichtlich sind die Widersprüche, die der „Petrosozialismus“ in den vergangenen Monaten und Jahren angesichts der persistenten Abhängigkeit vom Erdölexport offenbart hat. Wie konnte es so weit kommen?
Die Rentenökonomie
Venezuela ist das Paradebeispiel einer Rentenökonomie. Erdöl bildet das Hauptexportgut und auch die wesentliche Grundlage für den Staatshaushalt. Dies erschwert die nachhaltige Planbarkeit von staatlichen Investitionen erheblich, da die Preise von Rohstoffen auf dem Weltmarkt massiven Schwankungen unterliegen. Zudem verursacht die so genannte „holländische Krankheit“ eine chronische Importabhängigkeit, da der Zufluss von Devisen durch den Verkauf von Erdöl am Weltmarkt dafür sorgt, dass die Binnenproduktion von Lebensmitteln und Industriegütern im Vergleich zu Importen aus dem Ausland unrentabel wird.
Hinzu kommt das koloniale Erbe: Die enorme gesellschaftliche Ungleichheit, die in Lateinamerika im Zuge des Kolonialismus geschaffen wurde, schrieb sich auch in die wirtschaftliche und soziale Struktur Venezuelas ein. Zwar fand die erste kommerzielle Förderung von Erdöl im frühen 20. Jahrhundert längst in einem souveränen venezolanischen Staat statt, der Zugriff auf die Ressource war zunächst allerdings durch ausländische Firmen und lokale Eliten geprägt.
An dem neokolonialen Charakter des venezolanischen Staates änderte auch die Verstaatlichung der Erdölindustrie und die Gründung des bis heute existierenden staatlichen Erdölkonzerns Petróleos de Venezuela S.A. (PDVSA) im Jahr 1976 wenig. Der Klassencharakter der Verteilung der Einnahmen aus dem Erdölsektor blieb erhalten, venezolanische Eliten sicherten sich den Löwenanteil der Gewinne, während Investitionen in die Modernisierung des Landes vor allem die politische Allianz mit der Mittelschicht absichern sollten. Als Ende der 1980er Jahre eine ökonomische Krise die internationalen Finanzinstitutionen und ihre Strukturanpassungsprogramme auf den Plan rief, mündete diese gesellschaftliche Spaltung in eine Protestwelle.
Erdöl für mehr Gleichheit
Hugo Chávez’ Sieg in der Präsidentschaftswahl 1998 wäre ohne diese Ereignisse wohl nur schwer vorstellbar gewesen. Er bestritt seinen Wahlkampf mit dem Versprechen, die venezolanische Gesellschaft gerechter zu gestalten. Er überzeugte damit eine Vielzahl unzufriedener WählerInnen aus der Mittelschicht, eine echte Alternative zum alten System zu sein.
Der Bruch mit diesem Wählersegment erfolgte erst 2003, nach einem gescheiterten Putschversuch gegen Chávez und nachdem oppositionelle Kräfte versucht hatten, durch einen Generalstreik der PdVSA (paro petrolero) die finanzielle Grundlage für Chávez’ Regierung zu zerstören. Dieses Vorgehen, welches das Land fast in den finanziellen Ruin führte, ist zentral für ein Verständnis der aktuellen Situation im Land und zeigt, wie weit die Opposition bzw. die alten Eliten bereit sind zu gehen, um die Macht im Staat wiederzuerlangen. In der Folge spitzte die Regierung ihr umfassendes Transformationsprojekt zu und übernahm die Kontrolle innerhalb der PdVSA durch den Austausch eines großen Teils des zuvor streikenden Personals. Die Umverteilungsmaßnahmen der folgenden Jahre sorgten für enorme Erfolge bei der Armutsbekämpfung und der hohe Grad an Mobilisierung unter den armen Bevölkerungsteilen äußerte sich in der erfolgreichen Wiederwahl von Chávez zum Präsidenten bei der Wahl 2006. Weitere Nationalisierungen blieben allerdings aus, die Regierung ist bis heute bei der Finanzierung der Sozialprogramme von den Einnahmen aus dem Erdölsektor abhängig.
Umkämpfte Geldpolitik
Auf den ersten Blick ist klar: Chávez hat mit der Übernahme der PdVSA im Jahr 2003 die alten Eliten endgültig von der wichtigsten Geld- und Machtquelle des Landes abgeschnitten. Der zweite Blick offenbart die Mittelschicht als zweite Verliererin im „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“. Exemplarisch lässt sich dies im Kontext der Geldpolitik illustrieren.
Die Importabhängigkeit stellte die Regierung vor das Problem, dass Lebensmittel zu Marktpreisen für die Bevölkerung weiterhin schwer erschwinglich waren. Um das Versprechen einer gerechteren Gesellschaft einzulösen, wurde daher auf fixierte Wechselkurse gesetzt, um leistbare Preise zu garantieren. Der Lebensstandard der Armen konnte erhöht werden, die Geldpolitik brachte aber auch eine strikte Kontrolle der Devisenflüsse mit sich. Das bedeutete in der Praxis, dass die für Importe benötigten Dollar nur über bürokratische Umwege erhältlich waren. Dieser Umstand erschwerte es vielen VenezolanerInnen, den von ihnen gepflegten westlichen Lebensstil aufrechtzuerhalten.
Eine alternative Finanzierungsquelle stellte bald ein Schwarzmarkt für Fremdwährungen dar, deren Wechselkurse aufgrund der vorhandenen Nachfrage deutlich höher lagen als der offizielle Kurs der Regierung. Als die Ladenpreise im ganzen Land in Erwartung hoher Gewinne immer stärker an den Schwarzmarktkurs angepasst wurden, geriet ein Teufelskreis in Gang, der in horrenden Inflationsraten mündete und dem die Regierung im Grunde ausgeliefert war. Maßnahmen, wie die sukzessive Anpassung des Mindestlohnes, waren Reaktionen auf diese Entwicklung. Die Wurzel des Übels lag aber letztendlich in der rentenökonomischen Struktur der venezolanischen Wirtschaft. Trotz Bemühungen zur Diversifizierung der Wirtschaft, blieb diese unangetastet.
Die Opposition wittert ihre Chance
Als Hugo Chávez am 5. März 2013 verstarb, war diese Entwicklung längst im Gange. Seinem Nachfolger, Nicolás Maduro, fehlt offenkundig das Charisma und die Beliebtheit von Chávez. Der Rückhalt, den Chávez in der venezolanischen Bevölkerung genoss, wäre aber besonders nach dem Verfall der Erdölpreise 2014 von entscheidender Bedeutung gewesen. Denn fortan ließen sich die negativen Auswirkungen des einseitigen ökonomischen Fokus auf den Erdölexport nicht mehr kaschieren und die Regierung erlitt einen zunehmenden Vertrauensverlust unter ihren AnhängerInnen.
Die über Jahre hinweg zersplitterte Opposition nutzte den Unmut der Bevölkerung über die Auswirkungen der ökonomischen Krise und instrumentalisierte diese, um an politischer Bedeutung zu gewinnen. Da der Lebensmittelimport ohnehin von oppositionellen Kräften kontrolliert wurde, konnten die horrenden Lebensmittelpreise teilweise durch eine künstliche Verknappung des Angebots weiter in die Höhe getrieben werden. Bilder von leeren Supermarktregalen und Warteschlangen schockierten die Weltöffentlichkeit in der Folge ebenso wie gewalttätige Demonstrationen. Beide Seiten bezogen immer radikalere Positionen. Der Kampf um die Erdölrente fand wieder auf den Straßen statt.
Aber auch vor den Sozialen Medien machte der Protest nicht halt. Aufrufe zur Solidarisierung mit der Opposition erreichten den Globalen Norden und fanden Gehör. Die englischsprachigen Forderungen für mehr Demokratie im Land seitens der westlich orientierten Mittelschicht prägten fortan das Bild von den Zuständen im Land. Andere Stimmen wurden nicht gehört, ein differenziertes Bild zur Lage ist kaum vorhanden. Die Meinungsbildung erfolgte dementsprechend auf einseitiger Grundlage. Damit war die Basis geschaffen, auf der sich die venezolanische Opposition mit ihrem aktuellen politischen Aushängeschild Juan Guaidó nun anschickt, mithilfe der USA endgültig das Ende des „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ herbeizuführen.
Das Vorgehen ist sehr geschickt: Anstatt wie in der Vergangenheit eine sofortige gewaltsame Absetzung des Präsidenten zu erzwingen, kann Maduros ungeschicktes Vorgehen problemlos genutzt werden, um ihn als Despoten, der gegen das Volk regiert, darzustellen. Dies verdeutlichen etwa die blockierten Lebensmittel- und Medikamentenlieferungen an den Grenzen zu Kolumbien und Brasilien. Während Maduro diese als Provokation der PutschistInnen versteht, lösen die über die Medien verbreiteten Bilder weitere Empörung in der Weltöffentlichkeit aus.
Die Rückkehr des US-Imperialismus
Nachdem sich Guaidó zum Interimspräsidenten erklärt hatte, forderte die Europäische Union ohne rechtliche Grundlage Neuwahlen. Donald Trump und Jair Bolsonaro erkannten Guaidós Präsidentschaft unmittelbar an. Sowohl der Präsident der USA als auch jener Brasiliens stehen für militärischen Interventionismus. Auf der anderen Seite kann Maduro weiterhin auf die Loyalität des Militärs bauen. In dieser Ausgangslage ist die Gefahr für den Ausbruch eines Bürgerkrieges äußerst realistisch. Eine wichtige Rolle wird in der Prävention eines solchen Szenarios wohl den Vereinten Nationen zukommen, die Maduro weiterhin als legitimen Präsidenten Venezuelas anerkennen. Eine humanitäre Hilfsmission der UNO in Venezuela wäre wohl die Option, bei der beide Seiten am ehesten ihr Gesicht wahren könnten.
Dies darf aber nicht über die Rückkehr des US-Imperialismus hinwegtäuschen. Die sozialistische Regierung Venezuelas war den USA seit ihrem Wahlsieg ein Dorn im Auge. Die Symbolkraft des „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ wog dabei wohl mindestens ebenso schwer wie der verlorene Zugriff auf die Ölressourcen des Landes. Venezuela war federführend bei der wirtschaftlichen und politischen Kooperation der Linksregierungen Lateinamerikas und spätestens seitdem die Regierung die Beziehungen mit China intensivierte, wurde die geopolitische Relevanz Venezuelas offenkundig.
Wie auch immer man den „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ bewertet, eine (militärische) Intervention seitens der USA sollte leidvolle Erfahrungen des Globalen Südens mit einem derartigen Vorgehen in Erinnerung rufen. Eine langfristige Destabilisierung des Landes und ein Ausverkauf der nationalen Ressourcen sowie eine Abkehr von den sozialpolitischen Errungenschaften der vergangenen 20 Jahre wären keine Überraschung, sondern die logische Konsequenz, sollte die Opposition ihre politischen Interessen durchsetzen können. Solidarität mit dem venezolanischen Volk bedeutet daher, weder die blinde Unterstützung für Maduros Regierung noch die Akzeptanz eines Putsches seitens der Opposition. Sie bedeutet, die Souveränität der VenezolanerInnen anzuerkennen, ihre Wahlentscheidungen zu respektieren und internationales Eingreifen in Krisenzeiten auf humanitäre Hilfe ohne imperialistisches Kalkül zu beschränken.