Passagencollagen (#4)
Die Serie Passagencollagen ist eine Kooperation zwischen MALMOE und dem Kollektiv und Zeitschriftenprojekt Tortuga. Seit 2013 behandelt Tortuga Themen wie GRENZE, LÄRM, KÖRPER und die Vorsilbe VER im Rahmen von Heften, Hörspielen, Performances und Veranstaltungen. Neben der vierteiligen Reihe KÖRPER entstanden zuletzt mehrere Ausgaben zur Vorsilbe VER.
Die scheinbar feste Form und Anordnung des Inhalts der Heftreihen wird in der MALMOE nun wieder aufgelockert, Beiträge werden in Kontrast gestellt, zerschnitten, wieder zusammengeklebt – sie verschwimmen miteinander, verkörpern sich gegenseitig.
Den vorläufigen Abschluss der Passagencollagen bildet diesmal eine Heftbesprechung im Konjunktiv.
Das Tortuga-Heft #3 KÖRPER V, welches im Folgenden besprochen wird, wurde im Unterschied zu den anderen Ausgaben der Themenreihe zum Körper niemals geschrieben und ist daher weder als Webversion noch als Druck noch in irgendeiner anderen Form irgendwo erhältlich. Diese Nichtexistenz des Heftes mag vordergründig als Manko angesehen werden, ist aber zugleich auch der größte Vorteil dieser Ausgabe – schließlich muss man sie nicht lesen und hat dennoch nichts verpasst. Jedenfalls ist die Körperlosigkeit des Heftes noch lange kein Grund, es nicht entsprechend zu würdigen und dem*der Leser*in Einblick zu verwehren, denn in der Tat könnte diese Ausgabe zweifellos auch jenseits der Möglichkeitsform bestehen. Schließlich sind die potenziellen Beiträge aus Bruchstücken der bisherigen Ausgaben der Reihe zusammengesetzt bzw. inspiriert, womit dieses Konjunktivheft auch als kritische Metareflexion verstanden werden könnte.*
Begonnen worden wäre das Heft mit einem eher komplexen, wissenschaftlichen Text, der die Ausgabe inhaltlich gerahmt hätte. „Performativität jenseits der Materialisierungen denken“ hätte ein Titel sein können. Vielleicht hätten nur wenige den Beitrag wirklich gelesen. Und jene, die sich die Mühe angetan hätten, hätten schnell wieder vergessen gehabt, worum es genau gegangen war. Die intellektuelle Basis des Aufsatzes hätte dennoch sowohl Redaktion als auch Leser*in überzeugt und für einen fundierten und seriösen Hefteinstieg gesorgt. Es wäre gleich zu Beginn klar gemacht worden, dass die Art der Auseinandersetzung mit dem Thema eine vertiefte gewesen wäre. Eine wirklich motivierte Person hätte sich somit aus diesem Artikel etwas herausholen können. Außerdem hätte die ausgeklügelte Heftdramaturgie dafür gesorgt, dass gleich vor und nach dem Beitrag besonders eindrucksvolle visuelle Arbeiten gesetzt worden wären, mit denen die Wackeren belohnt und die Faulen unterhalten worden wären. Ein Win-win-Einstieg also.
In dem darauffolgenden Text hätte sich die Redaktion gefreut, dass jemand den Themen-Call mit etwas beantwortet hätte, das nicht erwartet worden war. Das Team wäre froh gewesen, dass jemand anderes daran gedacht hätte, sich mit diesem Thema einzubringen, und die Rückmeldungen wären positiv bis begeistert gewesen. Diese Freude hätte die prominente Reihung des Textes an zweiter Stelle zur Folge gehabt.
Die Krise der Identitätskrise
Stellen Sie sich vor: Sie gehen zu einem Vorstellungsgespräch und die sich aus Vorabrecherche schon anbahnende Vermutung, dass dieser Betrieb in allen Bereichen unseren Erwartungen entspricht, würde sich im positiv verlaufenden, humoristisch gestalteten Gesprächsverlauf bestärken. Die Arbeitszeit wäre flexibel, der Lohn gut, das Maximum an Stunden variabel. Nebenher ließe sich noch locker ein Kulturverein betreiben.
Wo wären wir in zwei, drei Jahren solcher Lebensart?
Wer wären wir?
Die Generation Zielstrebigkeit hat darauf eine selbstsichere, ungezwungene Antwort. Nun, sie, die Menschen hinter dem Label, sie wären sie selbst, zuerst einmal, erzählt einer dieser Menschen, mit denen ich mich zur Recherche verabredet habe. Und sie wären nicht nur eine, immergleiche Person, sie wären viele.
In Wahrheit, so erwähnen es einige Vertreter*innen, ginge es in der Generation Zielstrebigkeit aber auch nicht um irgendwelche quantitativen Ziele wie den Traum vom eigenen Einfamilienhaus (dessen Neubau seit der Kontra-Identitären Revolution 2019 stagniert) oder darum, der psycho-pharmazeutischen Lobby eins auszuwischen (die Zahl derer, die mit Burnout-Syndrom und manisch-depressiven Episoden medikamentös behandelt werden müssen, geht beständig zurück) – es hätte sich ihnen im Laufe ihres Lebens einfach offenbart, dass sie sich nicht verbiegen müssen, um sich in ihrer Lebensweise bestätigt zu fühlen.
Demnach hätten sie einfach begonnen, so verschiedenartig und vielschichtig wie sie einander begegneten, miteinander zu leben. Wirtschaft, Politik und noch von identitären Lebensweisen geprägte Generationen hätten sich demnach einfach an diese epochale Änderung angepasst und es wäre ihnen leichtgefallen.
Und so, erklärt eine der frühen Desidentisierten, wäre es dann gekommen, dass aus der Krise der Identitätskrise schlussendlich alle als Gewinner*innen hervorgehen konnten (ausgenommen einer Mikroprozentzahl in Einsamkeit und Leere lebender Identitärer).
[Vorabauszug Tortuga #3 Körper V]
Ob der positiven Stimmung im Heft würde an dieser Stelle eine der visuell anspruchsvolleren Einsendungen aus der Sparte Bildende Kunst untergebracht werden, auch wenn sich die Redaktion uneinig wäre, was denn hier genau abgebildet sei (die Meinungen würden von „Hase“ bis „sich in Osmose befindende Membran“ reichen). Zu sehen gewesen wäre eine schemenhafte, dunkle Form, außen herum reichlich mit exzessivem Kritzikratzi versehen. Die bis fast zur Unkenntlichkeit überkritzelten Formen hätten etwas entfernt Körperähnliches gehabt, teils muskelhaft-sehnig, teils organartig-verkrümmt. Eine visuell schlüssige, sinistre Vision, die den im Titel angekündigten „schönen Dingen“ im Inneren des Körpers einen zynischen Beigeschmack verliehen hätte.
Darauffolgend käme ein Text, der so verspielt und lieb angemutet hätte, dass die Redaktion ihn niemandem hätte vorenthalten können. „Keine Gabel und ein Schnupfen“ hinterließe ein derart poetisch-wärmendes Gefühl, wir wären alle fast so weit gewesen, den Referenzen auf eine Vielzahl französisch klingender Lyriker*innen nachzugehen. Fast.
Aber um einen ganz scharf zu erfassenden Inhalt wäre es bei „Keine Gabel und ein Schnupfen“ ja ohnehin nicht gegangen. Die philosophische Wortpoesie hätte in ihren fabelhaft nebulosen Assoziationssprüngen einen klaren Erkenntnisstrang ohnehin abgeschüttelt – und nachdem der Beitrag gut geschrieben gewesen wäre, hätte dies auch niemand mitbekommen.
Im Anschluss daran wäre ein aktivistischer, beißend-politischer Beitrag aber sehr wohltuend gewesen. „Korporale over Graz“ hätten aus ihrer langjährigen Praxis heraus argumentiert, warum es notwendig ist, die absurden gesellschaftlichen Hierarchien zu demontieren. Als Korporale, dem niedrigsten Dienstrang, der quasi mit dem Anlegen einer militärisch anmutenden Uniform noch in der Umkleide verliehen wird, würden sie in sowohl frechen als auch einfachen Worten beschreiben, wie sie aus dem System heraus versuchen, die Lücken darin zu finden, um es mit „Fremdkörpern“ zu befüllen. Der Text wäre ein in Stil und Inhalt sehr leiblicher, unvermittelter, praktischer – den Körper als eine an sich schon widerständige oder widerstandsfähige Einheit und Manifestation denkend. An dieser Stelle käme das im Heft aufgezogene Baustellengerüst des Außen und Innen der Körper notwendigerweise ins Wanken. Zudem würde die Redaktion endlich Kritik ernten müssen, auch wenn sie für die Verwendung normativer Konstruktionen wie „schön“ und das Mitwirken der voranschreitenden Verdinglichung im Titel von einem gewissen sprachlichen Interpretationsrahmen ausgegangen war.
Sich selbstironisch als eine Art Fußvolkversion der „Hysteria“ bezeichnend, wäre es den Korporalen jedenfalls ein zentrales Anliegen, abseits der Kunst- und Kulturgefilde zu wirken, auch wenn diese in Graz als vergleichsweise nahbar gelten dürften. Die Art ihrer Sabotage fände in der Redaktion aufgrund ihrer undogmatischen Vorgehensweise Anklang und zugleich wäre die (nicht nur) interne Sorge, das Tortuga-Projekt hätte seine aktivistisch-politischen Wurzeln gekappt und geriete durch staatliche Fördergelder in den Sog des rein um ästhetische und intellektuelle, oberflächliche Ansprüche bemühten Kulturprojektsumpfs, zumindest momentan getilgt.
Zwischen diesem und dem nächsten Beitrag, der für die demografisch so weit unerforschten Leser*innen der Publikation entweder hochgradig spannend oder weit außerhalb der Komfortzone oder gar der Interessensheuchelei liegen würde, käme zur synaptischen Auflockerung (oder: Intensivierung der Anspannung) ein unverfängliches Gedicht. Die Redaktion würde dabei einer langen literarischen Tradition der Lyrik als Lückenfüllerei treu bleiben und sich nur marginal dafür schämen. Lücken zu füllen sei eine nicht zu unterschätzende Aufgabe in der Dramaturgie einer Zeitschrift, wäre der apologetische Konsens.
Danach käme wieder einer der Hauptartikel: „Wer schwebt im Archiv“. Die Verfasserin, eine junge, im künstlerisch-wissenschaftlichen Feld aktive Person, hätte sich für diesen Beitrag intensiv mit dem Thema der Körperlichkeit des Staubs beschäftigt. Schließlich, so würde sie argumentieren, bestünde Hausstaub zum größten Teil aus abgefallenen Hautschuppen und sei insofern eine äußerst persönliche Materie. Abgefallene Körperlichkeit, unser ehemaliges Selbst quasi, das sich heute an ebenjenen Zonen ablagert, die außerhalb unseres Blickfeldes stehen.
Gleichzeitig ginge es in dem Aufsatz um einen der Hauptlebensräume des Staubes, nämlich um das Archiv. Denn dies sei schließlich der Ort, an dem sich Staub nicht nur ansammelt, sondern an dem die Vergangenheit durch die Recherche vom Staub der Geschichte befreit werden könne. Historisches Arbeiten sei immer auch ein Kampf gegen die fast unsichtbaren Partikel des Vergessens, die sich unablässig auf unseren Wissensbeständen ablagerten und das heute noch Selbstverständliche und farbig Konturierte blass und unwichtig erscheinen ließen.
Diese Ambivalenz des Staubes, die die Autorin sehr anschaulich dargestellt hätte, wäre sowohl bei den Leser*innen als auch bei der Redaktion sehr gut angekommen.
Darauf gefolgt wäre ein schludrig gezeichneter, mit intellektuellen Keywords versehener Comic: eine vordergründig einfach lustige, simple Story mit einer guten Pointe, aber man hätte sich beim Lesen ein bisschen schlau fühlen können. Eigentlich hätte der Comic vielleicht gar nicht so genau ins Heftthema gepasst, aber der Beitrag wäre einfach zu gut gewesen, um ihn nicht abzudrucken. Mit diesem Beitrag schließlich wären auch jene Leser*innen glücklich geworden, die eigentlich gar keine Zeit für das Durchlesen eines komplizierten Artikels verwenden wollten oder konnten.
Im Impressum würde sich eine Vielzahl Mitwirkender erwähnt sehen (bis auf den einen Namen, der immer vergessen wird). Auch wäre sich mittlerweile darauf geeinigt worden, trotz der Arbeit im Kollektiv Namen der Redaktionsmitglieder abzudrucken, ein in mehreren Plena ausgearbeiteter Beschluss zur Selbstdefinition „Kollektiv“. Die physischen Angaben zu Druckart und Herstellungsort, Papiersorte und Grammatur wären gleich danach sorgfältig angeführt wie auch die Auflage, gerade so weit durchnummeriert, dass immer nur ein paar Hefte hergegeben werden hätten können.
Schließlich hätte es auch noch zwei im Heft versteckte, sehr ästhetische Postkarten mit ziemlich irritierenden Körperansichten, ein femi-brachiales Faltposter sowie mehrere Audiofiles gegeben, die man sich mittels eines auf einen per Origamitechnik kleingefalteten, neonfarbigen Begleitzettel gedruckten Download-Codes (eigentlich einfach eine URL) herunterladen hätte können. Wer das aber jemals wirklich gemacht hätte, wäre der Redaktion, wie immer, ein Rätsel geblieben.
Eingebunden gewesen wäre das Druckwerk übrigens in jeweils unterschiedliche Unikatdrucke. Die Umschlagpapiere hätten dabei – ganz dem Heftthema entsprechend – eine Vielzahl an Farbnuancen und Papierstärken aufgewiesen, was durch eine großzügige Schenkung (oder vielmehr durch eine als Schenkung getarnte Entrümpelungsaktion) eines befreundeten Grazer Druckereibesitzers realisiert werden hätte können. Das darauf angebrachte Motiv – eine Art Sammelsurium grob geschnittener, aber sehr anmutig aussehender Innereien – wäre vom Redaktionsteam im mühsamen 4-Schritt-Kartoffeldruckverfahren aufgestempelt worden, was aber nur etwa 10 % der Leser*innen bemerkt und gewürdigt hätten. Der Innenteil hätte sich dann als schlicht, aber inhaltsstark profiliert – als einfacher schwarz-weißer Risodruck in einem deutschen Industrienormen entkommenden Format.
*Alle Ähnlichkeiten mit realen Einreichungen sind beabsichtigt, aber keinesfalls bös’ gemeint.
Die vollständigen Tortuga-Hefte sind in ausgewählten Buchhandlungen (siehe http://www.tortuga-zine.net) sowie via Mail über bestellung(at)tortuga-zine.net erhältlich