„Männlichkeit“ ist kein kohärenter Gegenstand, an dem man eine generalisierende Wissenschaft entwickeln könnte. Nichtsdestotrotz ist es möglich, zu kohärentem Wissen zu gelangen. Wir müssen den Betrachtungshorizont erweitern und Männlichkeit nicht als isoliertes Objekt verstehen, sondern als Aspekt einer umfassenderen Struktur. — Raewyn Connell: Der gemachte Mann
Die pädagogische, gendersensible Arbeit mit jungen Männern und Burschen* ist ein relativ junges Thema im sozialen Bereich. Zum Glück passiert in dem Feld einiges. Wir würden gerne einige Einblicke über das Arbeiten, die Herausforderungen und unsere Erfahrungen darlegen.
Nicht selten passiert es uns, dass es für Irritationen sorgt, wenn wir von unserer Tätigkeit im Kontext von Burschenarbeit sprechen. Erste häufige Reaktionen sind eine Infragestellung der Tätigkeit selbst oder eine Verwunderung, wenn es um die – an sich doch sehr offensichtliche Notwendigkeit – der pädagogischen Arbeit geht. Das anfängliche Missverständnis ist in den meisten Fällen schnell behoben und ein „Eh klar“-Moment stellt sich ein. Diese, uns oft entgegengebrachte Irritation, ist maßgeblich, wenn es um den Diskus geht, wie über Gender in der Gesellschaft gesprochen wird. Gender wird nicht selten als ein Synonym für „Frau“ verstanden. Wenn es um Männlichkeiten und den diesen zugrundeliegenden Konstruktionscharakter geht, spiegeln sich oft etablierte gesellschaftliche Machtstrukturen wider. Die patriarchale Norm wird nicht in den Blick genommen, stattdessen wird ihre konstruierte Abweichung thematisiert: statt „Mann” – „Frau”. Wir versuchen die patriarchale Norm und die gesamtgesellschaftliche Komplexität in den Fokus zu bekommen. Über die pädagogische Arbeit versuchen wir nachhaltig Dynamiken zu ändern. Dabei versuchen wir jungen Männern Handlungsmöglichkeiten abseits tradierter Männlichkeitsbilder aufzuzeigen, die mit gesellschaftlich etablierten Männlichkeitsanforderungen brechen.
Kritische Praxis
Pädagogisches Arbeiten bedeutet Arbeiten mit Menschen. Menschen sind entlang bestimmter, flexibler und veränderbarer Machtbeziehungen in der Gesellschaft situiert. Bei dem Arbeiten mit Männlichkeit geht es darum, wachsam und anerkennend mit bestimmten Vorannahmen in einen kritischen Dialog zu treten. Dabei sehen wir Männlichkeitsanforderungen – gesellschaftliche Ideen von dem, wie und was Männer sein müssen/sollen – als einen zentralen Aspekt im Verstehen der Herausforderungen unserer Arbeit. In der kritischen Männlichkeitsforschung, wie Olaf Stuve und Katharina Debus betonen, wird zum Beispiel Sexismus als Bewältigungsmechanismus von Männlichkeitsanforderungen gesehen. Der Balanceakt besteht darin, die strukturelle gesellschaftliche Dimension sichtbar zu machen und gleichzeitig die Jungen in die individuelle Verantwortung zu nehmen.
Wir versuchen zu verstehen, welche Dynamiken im Spiel sind. Das ist nicht ganz einfach, bewegen wir uns doch in hochkomplexen gesellschaftlichen Gefügen. Um konstruktiv ins Gespräch zu kommen, bieten sich spezifische Räume an, in denen grob definiert ist, worum es geht. Temporäre, monoedukative Räume, wie sie seit den 1970ern in der feministischen Mädchenarbeit eingesetzt werden, können dabei helfen, einen Fokus auf Genderkonstruktionen zu setzen. In den Kontexten, in denen wir als Trainer tätig sind, also zumeist Workshops, heißt das von Anfang an die Dynamiken in den oft homogenen Burschengruppen zu verstehen: Wer von den Teilnehmern nimmt welche Position in der Gruppe ein? Wie ist Macht in den Räumen verteilt? Und welche Formen von Umgang und Intervention braucht es um diese historisch gewachsenen Dynamiken aufzugreifen und zu verändern? Dem zugrunde liegt der Versuch, die etablierten, bestehenden Strukturen in den jeweiligen Settings nicht zu reproduzieren.
Einblicke in die Arbeit
Es passiert aber natürlich leider viel zu häufig, dass man sich in Situationen wiederfindet, in denen alte, etablierte Muster das Klima des Workshops bestimmten. Dabei ist es oft einfach, denen das Wort zu überlassen, die es ohnehin schon gewohnt sind, jene Position zu besetzen. Um solche Wiederholungen zu vermeiden, verstehen wir in einem Workshop alles als Methode: von der informellen Begrüßung über die Vorstellungsrunden hin zum Feedback und der Verabschiedung. In allen Aspekten zwischenmenschlichen Zusammenkommens versuchen wir Dynamiken zu erkennen. Davon versuchen wir manche für die Teilnehmenden sichtbar zu machen, in die Reflexion zu bringen und dementsprechend gemeinsam darauf zu reagieren.
Im Austausch mit den Teilnehmern geht es zum Beispiel darum, zum Schweigen gebrachte Themen um Emotionen und Gefühle in den Vordergrund und (zurück) ins Bewusstsein zu holen. Das Wieder-Erlernen vom Sprechen über das Selbst und der emotionalen Verortung in der Welt sehen wir als zentral an, um einer wegkonstruierten „kalten“ Männlichkeit zu begegnen.
Im Herausbilden des männlichen Habitus, wie Pierre Bourdieu zeigt, werden viele dieser selbstreflexiven Fähigkeiten verlernt. Schmerzen, Ängste, Schwächen, sowie potenzielle nicht-heteronormative Begehren werden unterdrückt und abtrainiert, da sie den gesellschaftlichen Anforderungen nicht entsprechen. Wut, Besitzergreifung und Aggression auf der anderen Seite werden gefördert. Die Figur des ernsten Spiels beschreibt dabei, wie Wettbewerb, Sieg, Sturheit, Ausdauer und Konkurrenz bereits von klein auf und in unendlichen Variationen und Wiederholungen bestimmte persönliche Eigenschaften naturalisieren. Zu lernen, über die eigenen Gefühle zu reden, sich selbst zu verstehen, die eigene Grenze zu kennen und diese artikulieren zu können ist dabei ein ständiger Fokus unserer Arbeit. Diese Ziele zu erreichen ist nicht immer einfach. Im Zentrum steht dabei das Abholen der Teilnehmer von ihren jeweiligen Standpunkten und eine Anerkennung der diversen Lebensrealitäten.
Um das zu bewerkstelligen, helfen uns Methoden und Theorien. Kritische Männerarbeit wäre ohne machtkritische, queer-feministische, postkoloniale und intersektionale Ideen und Perspektiven auf unsere Gesellschaft undenkbar. Dabei greifen wir auf ein ebenfalls breites Ensemble an Werkzeugen zurück. Wir versuchen gemeinsam mit den Teilnehmern gegenderte Strukturen zu beleuchten und mögliche Perspektiven zu gestalten. Zusammen brainstormen wir, diskutieren über Klischees, tragen Konflikte aus und lernen über Care-Arbeit. Wir rappen, machen Medienkritik, drehen Videos und manchmal weinen wir auch. Wir reden über Sehnsüchte, Erwartungen und Ängste und verwenden theater- und bewegungspädagogische Ansätze. Was wir nicht machen: „Jungs weinen nicht“, „Stell dich mal nicht so an“ oder „So sind Jungs halt“ sagen. Erst wenn wir Männer fähig sind, uns selbst und uns in Bezug zu unseren Gefühlen zu verstehen, können wir reflektiert und wertschätzend uns und andere in dieser Welt wahrnehmen. Kritische Männerarbeit ist in diesem Sinne natürlich immer auch Gewaltprävention.
Herausforderungen und Ziele
Dafür ist natürlich eine ständige Introspektion unserer Arbeit hinsichtlich der eigenen Stereotype, Reflexe und Projektionsflächen nötig. Wir sind keine Helden. Doch gemeinsam kann Wissen geteilt werden und gemeinsam können andere Visionen artikuliert werden, die es schaffen, die eingeübten Praxen abzulösen und Raum zu geben für eine nachhaltigere Vielzahl an Möglichkeiten des Seins und des Werdens. Raewyn Connell liefert zur Erklärung von verschiedenen Männlichkeitstypen und ihren Dynamiken einen Ansatz, der ein grobes Einordnen ermöglicht. Zentral für unsere Arbeit und ihre gesellschaftliche Wahrnehmung ist die Unterscheidung zwischen dem Typ der hegemonialen Männlichkeit und dem der protestierenden Männlichkeit. Dabei kommt es oft zu einer subjektiv wahrgenommenen Verwechslung dieser Analysetypen. Protestierende Männlichkeiten sind jene oft diskursiv-medial unendlich wiederholten aufmüpfigen, problematisierten jungen Männer. Männer, die aufgrund von diversen Ausschlussmechanismen wie Rassismus oder Klassimus nicht Teil des hegemonialen Diskurses um Männlichkeit sein können, aber über den Protest versuchen, trotzdem dabei zu sein. Dies wird in der kritischen Analyse oft als eine Reaktion auf hegemoniale Männlichkeit verstanden. Diese wiederum hält ihre Machtposition unauffällig inne, ist ein „Gewinnertyp“ und bedarf keiner Rechtfertigung und keiner Auseinandersetzung über die eigene Position. Eine naturalisierte und unbestrittene Formation von Männlichkeit. An sich besteht die Herausforderung mit beiden Polen zu arbeiten: Hegemonie abbauen und Alternativen zum – nicht selten auch aggressiv und gewaltsamen – Protestieren aufzubauen.
Ausblicke
Leider konzentriert sich unsere Arbeit oft auf die aufmüpfigen Männer und weniger auf die etablierten Normen. Wieso bloß? Selbstredend, dass in einem Hegemoniekonzept nicht alle hegemonial sein können, sondern es der Abstufung bedarf und damit einer Über- und Unterordnung. Diese Einsicht ist entscheidend, um gesellschaftliche Dynamiken nicht aus dem Blick zu verlieren und unsere Arbeit nicht als Make-Up zu verstehen, in der versucht wird skandalöse Männlichkeiten zu besänftigen, anstatt die gesellschaftliche Dimension adäquat zu erfassen. Nachhaltige pädagogische Interventionen müssen demnach als doppelte Bewegung verstanden werden: als Abbau von Machtausübungen, sowie an dem Arbeiten an alternativen zu Umgangsformen bei gesellschaftlicher Ohnmachtserfahrung und Perspektivlosigkeit. Männlichkeitsanforderungen müssen jedoch auf allen Ebenen aufgebrochen und erweitert werden. It’s complicated. Aber wie jede pädagogische Arbeit lebt auch unsere von Geduld und Ausdauer den Burschen gegenüber und einer Ungeduld und Unruhe den Strukturen gegenüber
* Unsere Arbeit richtet sich generell nicht nur an Cis-Männer, sondern an alle, die sich als Männer definieren. Zwar hat sich ein Großteil bisheriger kritischer Männlichkeitsarbeit an Cis-Männern orientiert – dennoch gibt es auch eine zunehmende Auseinandersetzung mit Trans-Männlichkeit, siehe z. B. der Artikel Queering sexuality and doing gender von Salvador Vidal-Ortiz, die Arbeiten von Paul B. Preciado oder den Artikel aus der MALMOE 84 von Linus Giese.