Das Wiener Zinshaus, in dem ich lebe, darf als Miniatur einer funktionierenden Gesellschaft betrachtet werden. Anders als gerne behauptet wird, braucht eine gesellschaftliche Organisation keine gemeinsame „Erzählung“, keinen Ursprungsmythos oder das Bekenntnis zu einer gemeinsamen Kultur. Die teile ich mit meinen Nachbar*innen nämlich nicht. Der Herr von oben links fährt gerne Motorradrennen und hat einen „Bikers for Trump“-Sticker an seine Tür gepickt. In einem Gespräch würden wir sicherlich auf politische Auffassungsunterschiede stoßen. Nur, das Brillante an einem Großstadthaus mit vielen Parteien ist, dass wir gar nicht über so etwas reden. Brauchen wir nämlich nicht. Als der Strom im Haus ausgefallen war, wanderten wir gemeinsam durch die Stockwerke und suchten nach der Ursache und taten dabei so, als könnte ich mit Physik-Matura-Wissen dem gelernten KFZ-Elektriker irgendwie behilflich sein. Derart gestalten wir unser Zusammenleben: Wenn wir im Dunkeln sitzen, suchen wir gemeinsam Lösungen.
Möglich ist dieses Auskommen, weil die Gesellschaft „Zinshaus“ von etwas viel Wichtigerem zusammengehalten wird als öder Ideologie: Vertrauen. In unserem Haus leben ziemlich unterschiedliche Typen, sie können aber auf ein Grundgerüst allgemeinmenschlicher Moralität setzen (aka „Sittengesetz“ – seltsamer Ausdruck), das uns zunächst ermöglicht, ohne Furcht voreinander zu existieren, und uns in den kleinen Krisen des Zusammenlebens ermächtigt, gemeinsam die Probleme anzugehen. Wir schaffen dies ohne vorhergehende Formalisierungen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass keine/r im Haus je die Hausordnung gelesen hat, und ich weiß nicht einmal, ob es überhaupt eine gibt.
Dabei bedarf es auch des Vertrauens auf ein gemeinsames Zurückdrängen von Ideologien, die Menschen gegeneinander aufhetzen und die leider gerade wieder in Mode kommen. Mein Nachbar von rechts nebenan wurde hierbei für mich zum Helden. Unfassbare hundert Jahre lebte jene alte Dame (ich meine jetzt die von links unten) in unserem Haus. Ihr Sohn wohnte ein Stockwerk unter ihr. Als sie im Alter von 102 Jahren starb, erkrankte er bald und folgte ihr bereits wenige Monate später ins Grab. Die Wohnungen wurden entrümpelt und Gegenstände aus 10 Jahrzehnten weggeschafft. Ich schlich gerade das Treppenhaus hinauf, als mir einer der Entrümpler begegnete. Eine unbeleckte Frohnatur, die freudig die Stufen hinabsprang. Auf seinem Kopf eine Trophäe, die er in der Wohnung gefunden hatte: die schwarze Kappe der Totenkopf-SS. Ich war wie gelähmt. Das Haus war Ende der 1930er arisiert worden. Wenn ich aus meinem Fenster blicke, dann schaue ich in eine jener „Sammelwohnungen“ im Haus gegenüber, in der Juden und Jüdinnen vor der Deportation interniert waren. Ich dachte an die beiden gerade verstorbenen, freundlichen Alten in unserem Haus und überlegte mir, welche Vielzahl an Gründen es geben mag, eine solche Schirmmütze aufzubewahren. Nur eines war sonnenklar: Der Typ musste die Mütze jetzt absetzen und zwar sofort. Offensichtlich war Deutsch nicht seine Muttersprache und ich überlegte, wie ich es ihm begreiflich machen könnte. Hinter mir tauchte plötzlich mein Nachbar (jener von rechts nebenan) auf und sagte in energischem Ton: „Nimm die Kappe ab, das ist nicht lustig.“ Sofort war die SS-Mütze ohne ein weiteres Wort verschwunden. Ich bin sehr froh, solche Nachbarn zu haben, und blicke mit Vertrauen in unsere gemeinsame Zukunft.