Evrim – eine politische Biografie in der Türkei
Der Putsch und die Inhaftierung politischer Aktivist_innen haben Tradition in der Türkei. Es war dasselbe in den 1970ern, in den 80ern, auch in den 90ern und den 2000ern und es wird sich auch unter der Herrschaft Recep Tayyip Erdoğans nicht ändern. Dank dieser Tradition haben die meisten linken Politikerinnen in der Türkei schon persönliche Erfahrungen mit Gefängnissen gemacht. Übrigens saß auch Erdoğan Ende der 90er Jahre für 4 Monate im Gefängnis. Aber das war vor dem Umbau des türkischen Staatsapparates durch die AKP. Linke Politiker_innen und Aktivist_innen wurden und werden oft für viele Jahre eingesperrt. Die Anklagepunkte bleiben dabei so umfassend wie schwammig: von ‚Verfassungsfeindlicher Tätigkeit‘ über ‚Angriffe auf die türkische Nationalität‘ bis zur ‚Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung‘ und ‚Propaganda für Terrorgruppen‘.
Wie willkürlich diese Anklagepunkte ausgelegt werden, zeigt der Fall der Cumartesi Anneleri, der sogenannten Samstagsmütter. Bei diesen handelt es sich um einen Zusammenschluss der Angehörigen von Menschen, die in Polizeihaft für immer „verschwunden“ sind. Auch das eine Kontinuität in der Geschichte der Türkei. Die Cumartesi Anneleri demonstrierten, wie ihr Name schon sagt, jeden Samstag seit 1995 und nahmen diesen Protest, nach dem sie ihn aufgrund staatlicher Repressionen unterbrechen mussten, 2009 wieder auf. Am 25. August dieses Jahres löste die Polizei ihre Demonstration erneut brutal auf. Begründet wurde das gewaltsame Vorgehen gegen die Aktivist_innen mit ihrer angeblichen Nähe zur PKK, also einer Terrorgruppe.
Dass die Definition von Terrorismus und die jeweilige Zugehörigkeit zu terroristischen Vereinigungen Auslegungssache ist, erklärte Erdoğan bereits wenige Monate vor dem gescheiterten Militärputsch 2016. Dabei geht es nicht unbedingt um eine tatsächliche Abänderung bestehender Gesetze, sondern um deren Auslegung. So sagte Erdoğan laut Spiegel, es dürfe nicht unterschieden werden „zwischen Terroristen, die Waffen und Bomben tragen, und jenen, die ihre Position, ihren Stift oder ihren Titel den Terroristen zur Verfügung stellen, damit diese an ihr Ziel gelangen“. Demnach kann also Terrorismus so ziemlich alles und nichts bedeuten. Allerdings war es in der Türkei noch nie besonders schwer, im Gefängnis zu landen. MALMOE hat mit einem politischen Aktivisten aus Istanbul gesprochen, der von verschiedenen Kämpfen in der Türkei erzählt, aber auch davon, wie diese sein Leben beeinflusst haben.
„Schach hab ich im Gefängnis gelernt, damals war ich drei“
Evrim war tatsächlich erst drei Jahre alt, als er das erste Mal im Gefängnis war, was seine These stützt, dass wirklich alle politisch aktiven Türk_innen schon gesessen haben. Allerdings verdankt er diese frühe Erfahrung natürlich nicht seinem eigenen Aktivismus, sondern dem seiner Eltern. Sein Vater hat aufgrund seiner Tätigkeit in der marxistisch-leninistisch-maoistischen TKP-ML mehrere Jahre in Haft verbracht, da die Partei den Guerillakampf befürwortet und sich mit der PKK solidarisch zeigt. Auch seine Mutter saß jahrelang im Gefängnis, weil sie sich in der Partizan-Bewegung engagierte und für die Zeitung Özgür Gelecek schrieb. So kam es, dass auch Evrim schon als Dreijähriger neun Monate mit seinen Eltern im Gefängnis verbrachte. Damals waren politische Häftlinge noch in Gruppen untergebracht, weshalb sich gerade linke Parteien während der Haft vernetzen konnten. Auch Evrims Eltern haben ihm später von vielen netten Leuten erzählt, die sich gefreut hätten mit ihm zu spielen und ihm Schach beizubringen. Außerdem sei er mit Nachrichten zwischen dem Frauen- und dem Männertrakt hin- und hergeschickt worden. Wenn zum Beispiel roter Stoff für Fahnen gebraucht wurde und im Frauenteil ein paar rote T-Shirts auftauchten, haben sie ihm alles angezogen und ihn hinübergeschickt – zurück kam er dann eben nackt.
Abseits lustiger Anekdoten kennt Evrim den Knast allerdings als menschenverachtendes System. Sein Vater etwa, der zu lebenslanger Haft verurteilt war, trat gemeinsam mit Genoss_innen in einen über 200 Tage andauernden Hungerstreik, was krasse gesundheitliche Folgen für ihn hatte. So leidet er heute am Wernicke–Korsakoff Syndrom, eine in Österreich hauptsächlich unter Alkoholiker_innen verbreitet Krankheit, die unter anderem zu Amnesie, Schlaf- oder Sehstörungen führen kann und auf Mangelernährung zurückzuführen ist. Wegen der lebensbedrohlichen Auswirkungen des Hungerstreiks wurde Evrims Vater kurzzeitig entlassen, was er nutze, um zu fliehen. Seit 2005 lebt er in den Niederlanden, wo er Asyl bekommen hat
Nach seiner Zeit im Gefängnis lebte Evrim erst bei seiner Tante und dann bei verschiedenen Genoss_innen, von denen er kollektiv erzogen wurde. „Klar gab es einige, die sich schräg verhalten haben, aber viele waren auch sehr coole Leute, die mir viel beigebracht haben.“ Ab seinem zehnten Lebensjahr lebte er zusammen mit seiner Mutter und 10-15 anderen Menschen in Wohngemeinschaften. Zwar beschreibt Evrim die dadurch ausgebliebene Fokussierung auf seine biologischen Eltern als etwas Positives. Andererseits sagt er auch, dass es natürlich hart war, seine Eltern manchmal für Jahre nicht sehen zu können.
Neue Demokratische Jugend
Seine eigene politische Tätigkeit begann mit ungefähr 16 Jahren in der Yeni Demokratik Gençlik (YDG – Neue Demokratische Jugend), einer unabhängigen Jugendorganisation, die der Partizan-Bewegung nahe steht. Auch die YDG ist marxistisch-leninistisch orientiert und durch den Maoismus geprägt. Ihren Anspruch, die Gesellschaft aktiv verändern zu wollen, verfolgte die Gruppe in verschiedenen Arbeitseinsätzen. Evrim erzählt, dass sie „rauswollten aus ihrer Studi-Blase und die Realität der Arbeiter_innen kennenlernen.“ Sie halfen einen Monat lang bei der Aprikosenernte in Malatya, arbeiteten 15 Stunden am Tag und verdienten umgerechnet 2 Euro – weniger als das Busticket gekostet hat. Gerade wegen der harten körperlichen Arbeit betont Evrim, dabei viel gelernt zu haben, vor allem was Ausbeutung eigentlich bedeute. Neben der Landarbeit unterstützen sie auch den Arbeitskampf der Fabrikarbeiter_innen im Istanbuler Stadtteil Tuzla, verteilten Flugblätter und diskutierten viel mit Gewerkschaften und Arbeiter_innen. Die YDG beteiligte sich, wie eine Vielzahl linker Gruppierungen, an der Studierendenvertretung Genç-Sen. Diese wurde 2007 von der DISK (Konföderation der Revolutionären Arbeiter_innengewerkschaften der Türkei) gegründet und setzte sich etwa für Mitbestimmung an der Uni und für die Unterstützung von jenen Studierenden ein, welche von Repression betroffen waren. Nach diversen internen Gruppenstreitigkeiten führte 2011 schließlich ein Gerichtsbeschluss zur Auflösung von Genç-Sen.
Doch auch abseits gewerkschaftlicher Kämpfe gab es an der Universität genug zu tun. Zum rassistischen Normalstand an der Marmara Universität gehörte es etwa, dass eine Gruppe straff organisierter Faschistinnen regelmäßig Kurdinnen mit Dönermessern angriff, ohne mit Konsequenzen rechnen zu müssen. Während der Prüfungszeit müssen alle, also auch die Kurdinnen, auf die Uni, so ist es für die Faschistinnen zu dieser Zeit ein Leichtes, gezielt anzugreifen. Deshalb gingen Evrim und andere linke Studentinnen gemeinsam mit Kurdinnen zu deren Examen. Sie strebten auch Gerichtsprozesse an, weil es selbst in der Türkei verboten ist, Menschen mit Messern zu attackieren. Doch obwohl Zeugen und Beweise vorhanden waren und die Angreifer_innen bekannt, kam es nie zu einem Prozess. Die Polizei nahm Anzeigen gar nicht erst auf, geschweige denn, dass Ermittlungen auch zu Ergebnissen führten. Nur an einen Fall kann sich Evrim erinnern, in welchem ein Faschist exmatrikuliert wurde, allerdings war das Opfer ein ethnischer Türke. Als Resultat der andauernden Gewalt verlassen die meisten Kurd_innen die Universität und gehen zurück in ihre Dörfer, manche schließen sich dort der PKK-Guerilla an. Die meisten, die Evrim kannte, gingen nach Rojava und einige von ihnen sind bereits tot.
Die Gründe, warum Evrim die YDG verließ, obwohl er betont, immer noch sowohl mit Einzelpersonen, als auch der Organisation als Ganzem zusammenzuarbeiten, sind vielschichtig und er will auch keine internen Konflikte in der Öffentlichkeit diskutieren. So bricht er es auf Hierarchien herunter, auf persönliche Verhältnisse, die durch bestehende Machtstrukturen beschädigt wurden. Klar ist: die Partei ist straff organisiert und auch wenn innerhalb der YDG Tendenzen bestehen, selbstorganisierte Strukturen aufzubauen, gibt es innerhalb der Organisation einen eindeutig hierarchischen Führungsanspruch.
Boğaziçi – ein Ort des Widerstandes
Später studierte Evrim an der Boğaziçi Universität, einer grüne Oase innerhalb Istanbuls. Nicht nur die Gebäude scheinen 1:1 von einem amerikanischen Campus transferiert, die gesamte Campus-Kultur ist sehr westlich geprägt. Zwar war auch die Boğaziçi Universität von der Entlassungswelle betroffen, die dem Putschversuch von 2016 folgte – so setzte Recep Tayyip Erdoğan den kurz zuvor erst gewählten Rektor ab und ersetzte ihn durch einen AKP-nahen Professor – doch gab es an der Universität selbst weiterhin eine breite, politisch aktive Studierendenschaft, welche die demokratischen Freiheiten hochhielt.
Evrim organisierte als Teil einer Gruppe politisch aktiver Student_innen ein Gespräch mit Veli Saçılık, Soziologe und ehemaliger politischer Gefangener. Obwohl die Veranstaltung offiziell verboten war, gelang es ihnen, Saçılık auf den Campus zu schmuggeln. In der Veranstaltung berichtete dieser von den Protesten, die in der Türkei unter dem Namen Yüksel Caddesi, einer Straße in Ankara, bekannt sind. Dort demonstrierten die beiden Lehrer_innen Nuriye Gülmen und Semih Özakça seit ihrer Entlassung im Zusammenhang mit dem gescheiterten Militärputsch stellvertretend für die Rechte aller anderen entlassenen Beamt_innen. Aber auch an Veli Saçılıks eigener Biografie lässt sich die politische Entwicklung der Türkei nachvollziehen. Er war Ende 2000 an den Kämpfen türkischer Häftlinge beteiligt, die sich gegen die Einführungen verschärfter Haftformen wehrten. Diese als Typ-F-Gefängnisse bezeichneten Hochsicherheitsgefängnisse, in denen politische Gefangene, aber auch Schwerkriminelle, streng isoliert untergebracht sind, werden unter anderem von Amnesty International heftig kritisiert. Die Hungerstreiks der Gefangenen, die sich damit gegen die Einführung solcher Haftbedingungen zur Wehr setzten, wurden brutal beendet, als türkische Sicherheitskräfte die Haftanstalten stürmten. Mehrere Häftlinge starben während dieser Aktion. Veli Saçılık verlor einen Arm.
Afrin, Istanbul, Wien
Der Grund, warum Evrim seit kurzem in Wien lebt, ist allerdings ein anderer: Am 19. März 2018 wollte er ein Seminar besuchen, als er etwa 10 Student_innen bemerkte, die Lokum verteilten, eine als türkischer Honig bekannte Süßigkeit. Die Gruppe schwenkte türkische Flaggen und lud andere Student_innen ein, mit ihnen den Sieg der türkischen Streitkräfte über die kurdische Stadt Afrin zu feiern. Diese nationalistische Provokation konnte nicht unwidersprochen bleiben. Schnell versammelten sich 20-30 Gegendemonstrant_innen und begannen die Versammlung mit Sprechchören zu stören. Es kam zu kleineren Auseinandersetzungen und Wortgefechten, bis ein paar Professor_innen eingriffen und die Gruppen trennten. Schließlich wurde sich darauf geeinigt, die Demonstrationen aufzulösen und den Campus zu verlassen. Die Polizei war zu diesem Zeitpunkt zwar anwesend, allerdings nur außerhalb des Campus-Geländes. So unbedeutend dieser Vorfall scheint, so intensiv beschäftigte er die türkischen Massenmedien in den folgenden Tagen und avancierte schnell zu dem politischen Topthema. Selbst die Polizei wurde in den Medien dafür kritisiert, dass sie die Gegendemonstrant_innen nicht sofort verhaftet habe. Kurze Zeit darauf versichert Erdoğan, dass die Demonstrant_innen bestraft werden. Gegen Evrim werden Todesdrohungen auf Twitter ausgesprochen. Doch er hält sich bereits im Iran auf, als die Polizei auf den Campus, in die Wohnheime, in die Bibliothek kommt und etwa 30 Leute festnimmt. Seine Wohnung wird aufgebrochen und durchsucht. Menschen, mit denen er nur bekannt war, werden eingesperrt und er erfährt, dass seine gesamte Kommunikation seit Jahren detailliert überwacht wurde
Seitdem hat sich auf dem Campus-Gelände einiges verändert: Die Wohnheime sind nach Geschlecht getrennt, es gibt Metalldetektoren und Ausweiskontrollen an den Eingängen, die Mensapreise wurden erhöht und die Shuttle-Busse abgeschafft. Auch von Zivilpolizist_innen ist die Rede. Das sind die offensichtlichen Repressionen der AKP-Regierung gegen eine Elite-Universität, die sich noch gegen das starre Korsett der türkischen Nationalität wehrt. Was bleibt ist eine Atmosphäre der Angst, die sich auf dem Campus ausbreitet. Es wird nicht viel geredet über das, was passiert ist. Die AKP jedenfalls hat dieses unbedeutende Ereignis bestens genutzt, um die Situation erst medial eskalieren zu lassen und dann zurückzuschlagen.
In Österreich angekommen versucht Evrim sein Physikstudium fortzusetzen, allerdings unter widrigen Bedingungen. Der Betreuer seiner Masterarbeit an der Boğaziçi Universität will ihn nicht benoten, er hat Angst vor Repressionen. Und auch die Uni Wien erkennt seine bereits in der Türkei erbrachten Studienleistungen für den Master nicht an. Evrim ist weiterhin politisch aktiv, jetzt eben in Österreich, nimmt an Veranstaltungen und Demonstrationen teil und vernetzt sich mit anderen Migrant_innen.