Lange Zeit war es eines der attraktivsten Versprechen der Stadt, aus der sozialen Kontrolle des Dorfes – und den damit verbundenen Konsequenzen – in die urbane Anonymität entfliehen zu können. Ganz egal, welchen Lifestyle man pflegte, welche sexuelle Orientierung man hatte, welche politischen Ansichten man teilte und in welchen Kreisen man sich bewegte – die Stadt machte Platz für individuelle Lebensentwürfe und im besten Fall ließen sich gleichgesinnte Menschen finden, mit denen der eigene Lebensentwurf geteilt werden konnte. Die Anonymität war Teil des Freiheitsversprechens einer modernen, individualistischen Gesellschaft.
Interessanterweise hat sich der Wunsch nach Anonymität in den letzten Jahren vorrangig ins Internet verlagert, in der Stadt hingegen tritt dieser eher in den Hintergrund und wird durch die Beliebtheit von urbanen Dörfern überlagert. Das Thema soziale Kontrolle spielt in diesem Zusammenhang keine entscheidende Rolle. Die überwunden geglaubte Dorf- und Landromantik, unterfüttert mit der Sehnsucht nach Authentizität und Naturverbundenheit und dem Versprechen einer heilen Welt, übt auf die gestresste, abstiegsgefährdete Mittelschicht eine große Anziehungskraft aus.
Bei aller Notwendigkeit, für das Recht auf Anonymität im Stadtraum einzutreten, führt jedoch auch kein Weg vorbei am Menschen als sozialem Wesen, für das soziale Kontakte und Austausch unerlässlich sind. In einer Zeit der immer stärkeren Fragmentierung und Vereinzelung ist die Sehnsucht nach einem Leben in Gemeinschaft deutlich im Anwachsen, wie zahlreiche Haus- und Baugruppenprojekte zeigen. Verantwortlich für das steigende Bedürfnis nach Nachbarschaft sind mehrere Phänomene: Die radikale Individualisierung der Gesellschaft, die in den besonders stark von neoliberaler Politik geprägten Staaten wie beispielsweise Großbritannien zu einer mit verheerenden Folgen verbundenen Vereinzelung und Vereinsamung von speziell alten, nicht mehr im Berufsleben stehenden Menschen geführt hat; die Zerschlagung des Sozialstaates, die Nachbarschaften wieder als wichtige und notwendige Ressource erscheinen lässt; die Krise der repräsentativen Demokratie, die Nachbarschaften als möglichen Ort für eine radikale Demokratisierung ins Spiel bringt (Munizipalismus) und in der Linken viel diskutierte Themen wie kollektives Eigentum und Commons, die in einer Zeit wurzeln, als Nachbarschaft nicht nur ein räumliches Nebeneinander, sondern ein soziales und ökonomisches Netzwerk war.