Oder wie es dem Menschen bald gelingen wird, auch den Zugvögeln Grenzen zu setzen
Elf Küken springen dreißig Meter tief aus dem Festungsloch eines Schlosses im schweizerischen Aargau. Vor zwei Tagen aus dem Ei gepellt und schon knallen sie auf dem Kiesboden auf, wie Tennisbälle. Der Bauer staunt, die Katze faucht und ein Straßenarbeiter dreht sich um. Die elf Gänsesäger-Küken richten sich piepsend auf und schauen zu, wie die Mutter vor ihnen landet. Nun watscheln alle Richtung Bach durch Gärten, Wiesen und über eine Hauptstraße. Sie überleben alle. Vor einem Jahr schaffte es fast keines, dafür wurden die Krähen satt.
Windmühlen gegen den Vogelzug
Es ist doch verrückt, dass Zweig- und Rohrsänger tausende Kilometer hinter sich bringen, nur um hier Insekten zu fressen und die nächste Generation ins Nest zu setzen. Alles Wirtschaftsflüchtlinge, die ohne diese Reise nicht überleben könnten. Ein komplexes Atmungssystem, das eher einem Dudelsack gleicht, befähigt Vögel zu Höchstleistungen in dünner Luft, so dass auch mal ein Himalaya-Bergsteiger Gänse über sich hinweg ziehen sieht. Vögel, die Insekten fressen statt Beeren und Samen, müssen dahin, wo auch zwischen November und März das Richtige auf dem Speiseplan steht. Die Zivilisation scheint dieses Gewohnheitsrecht verhindern zu wollen: Strommasten fangen Störche ab, Windräder schlitzen Flussseeschwalben auf, Malteser schießen sich Feldlerchen in den Kochtopf und Alpensegler geraten in die Düsen von Flugzeugen.
Warum in die Ferne schweifen
Als ich diese Zeilen einem Biologen vorlas, meinte er, der Begriff „Reisen“ passe nicht zu den Vögeln, da damit eher Bildungs- oder Erholungsreisen gemeint seien. Aber reisen wir nicht oft auch aus Widerwillen? Arbeitssuche, Verwandtenbesuche, Beerdigungen bis hin zur Flucht vor Unterdrückung, Hunger und Krieg. Das Reisen zur Erholung und Weiterbildung begann erst mit den Briten im ausgehenden 19. Jahrhundert.
Vögel haben Gründe für ihre Reisen – und die ändern sich. Rotmilane stellen fest – um es in uns vertraute Worte zu fassen –, dass der Schnee immer mehr ausbleibt und so die Sicht auf herumlaufende Mäuse offenlässt. Störche scheinen sich den Aufwand für ihre Reise an die Feder zu stecken, wenn die Sümpfe nicht mehr gefrieren und die Felder auch im tiefsten Winter alles bieten. Stare sind schon länger Pendler, die sich immer wieder relativ spontan für Norden und Süden entscheiden. Der Wandel des Klimas lässt also die Vögel nicht kalt, sie reagieren.
Was wird mit den Gästen aus dem Norden geschehen? Zu Tausenden bewohnen die Reiherenten Europas hiesige Seen im Winter und bieten nicht nur ein bezauberndes Bild, sondern halten die Wandermuschelbestände im Zaum. Die aus dem Norden kommenden Rotkehlchen ersetzen im winterlichen Wald den Gesang derjenigen, die gen Süden zogen. Im Frühling ist dann Schichtwechsel, dann, wenn die Nordischen wieder nach Hause ziehen und die Heimischen aus dem Süden kommen.
Aber auch der Ruf als Transitland für Zugvögel steht auf dem Spiel. Millionen von Bergfinken überziehen unsere Breitengrade und immer wieder schmücken einige Kraniche unsere Moorgebiete bei einer Rast auf ihrer langen Reise. Vögel mit Namen wie Sichelstrandläufer oder Mornellregenpfeifer verzücken Ornithologen, wenn sie als Durchzugsgäste zu sehen sind.
Ein paar Fakten zum Vogelzug
Noch immer ist die Navigationstechnik der Zugvögel ein weites Forschungsfeld. Wie stark die topografischen Verhältnisse oder die Sternenkonstellation oder das Learning by Doing eine Rolle spielen, ist unklar und variiert je nach Art. Während die Jungtiere bei Störchen und Kranichen mit den Erwachsenen fliegen, muss der elternlose Kuckuck alleine den Weg in den Süden finden.
Extreme Wetterverhältnisse können Vögel von der Flugroute abbringen, so kam auch schon mal aus Versehen ein Meisenwaldsänger aus Nordamerika in Westeuropa an.
Sogenannte Kurzzieher wie die Haubenlerche fliegen nach Südeuropa oder Nordafrika, Langzieher wie den Berglaubsänger zieht es bis südlich der Sahara, Südafrika oder gar Südostasien. Vertikalzieher bleiben zwar im Land, aber überwintern eher in tieferen Lagen, so zum Beispiel der Mauerläufer.
Stare bringen gerne auch mal Geräusche mit aus dem Süden. So kann es vorkommen, dass die nachahmungsfreudigen Vögel einen arabisch anmutenden Geräusche-Teppich hinter die blühenden Obstbäume im Thurgauer Hinterland legen.
Die Natur zieht sich in Reservate zurück
Der Mensch scheint alles daran zu setzen, dass Vögel nicht mehr ziehen können. Damit Vögel zwischen Skandinavien und Afrika oder Südostasien pausieren können, brauchen sie passende Orte – Seen, Feuchtgebiete, Moore, Flachgewässer, weite Brachlandschaften, Kies- und Sandbänke.
Doch die Kulturlandschaft verwandelt sich zunehmend in ausgelaugte Felder für die Nahrungsmittel- und Biogasindustrie. Die Zersiedelung der Restlandschaft vernichtet grünes Land im Stundentakt. Die Gärten um die Häuschen und Wohnblocks sind ohne Naturwert: Monokultur in den Hecken, englischer Rasen, der den Boden verlehmen lässt statt Leben bringt, exotische Sträucher ohne Nutzen für Insekten und damit auch für Vögel. Der Artenvielfalt ist damit nicht gedient. Irgendwie scheint der Homo sapiens einen Instinkt zu haben, allen anderen auf dem noch blauen Planeten das Leben schwer zu machen. Gönnen wir doch den Zugvögeln die Reisefreiheit, die auch wir beanspruchen und lassen wir ihnen die Natur, die sie – und wir – so dringend brauchen!