MALMOE

Insektensterben und Klassenkampf

Warum der Kapitalismus nicht mit Artenvielfalt vereinbar ist und was das für die Aufklärung bedeutet

Als 2017 durch die sogenannte Krefelder Studie der Begriff „Insektensterben“ populär wurde, setzten rasch Leugnungsmechanismen ein: Die Studie übertreibe mit ihrer Behauptung, die Arten- und die Individuenzahl von Insekten sei um etwa 75 % zurückgegangen. Sie sei nicht wissenschaftlich oder hätte nur lokale Bedeutung. Im Gegensatz dazu sind sich jedoch Fachpublikationen über einen derartigen Rückgang seit Jahrzehnten vollständig einig. Für die 170 in Deutschland und den Alpen vorkommenden Tagfalterarten ist der Rückgang mit am besten belegt, weil zahlreiche historische Schmetterlingssammlungen als Vergleichsmaterial dienen können. Die meisten mitteleuropäischen Tagfalter sind auf Wiesen angewiesen, 60 Arten leben als Raupe ausschließlich von Gräsern, nur 30 Arten leben im Wald. Nach dem Verlust von Wildflüssen mit ihren kilometerbreiten Kiesbänken, Binnendünen und rutschenden Steilhängen, von natürlichen Waldlichtungen, Biberwiesen und baumfreien Mooren konnten viele Insektenarten nur noch in sogenannten „Sekundärbiotopen“ überleben. Diese waren – aufgrund eines historisch einmaligen und nicht wiederholbaren Zufalls – durch Naturzerstörung in den entwaldeten, überweideten Karsten der schwäbischen Alb, in den Steinbrüchen, in den Kahlschlagflächen des Schwarzwaldes, auf den Weiden und Heiden Norddeutschlands und auf den Almen der Alpen entstanden. Ein wesentlicher Faktor für den Schwund an Biodiversität war daher die Aufgabe von Beweidung und damit der Verlust dieser Sekundärbiotope seit Mitte des 20. Jahrhunderts. Was nicht verbuschte, wurde aufgeforstet. Der Anteil der extensiv genutzten Wiesenflächen ging in Deutschland auf heute unter 4 % zurück.

Die Leugnung ist reiner Antiintellektualismus

Auch in Österreich mit seinem viel größeren Grünlandanteil wurden in Steilhanglagen vermehrt Güllekanonen eingesetzt oder Forste angelegt. Ab den 1990ern kommen weitere Faktoren für das Artensterben hinzu: der massive Import von Futtermitteln aus Südamerika, der dadurch erzeugte Gülleüberschuss, die fortschreitende Monopolisierung von Fleischmastbetrieben und die Verbreitung der Neonicotinoide. Unter anderem erzeugte die Subventionierung von Biosprit noch einmal einen großen Sprung in der Intensivierung von Landnutzung: Um die 30 Prozent der Bauernhöfe in der EU gaben seit 2003 auf, das waren etwa vier Millionen. Zwischen 2003 und 2013 wuchsen daher die Hofflächen in Deutschland um 42 % auf 58 Hektar im Durchschnitt (vgl. weltagrarbericht.de). Der steigende Bedarf nach größeren Maschinen bewirkte, dass als Hindernisse die wenigen noch verbleibenden Teiche, Feuchtwiesen und Feldgehölze ebenso wie Bachmäander und Quellen systematisch und häufig illegal zerstört wurden. Die einst kostbare und nun wie Abfall verklappte Gülle belastete Gewässer, Wegraine und Wiesen. Es gab zudem kein Jahr ohne Flächenverbrauch für Siedlungsfläche und Straßenbau: Zwischen 1993 und 2003 waren es in Deutschland 120 Hektar pro Tag. Und weil die hinreichende Bedingung des Verschwindens einer Art der Biotopverlust ist, kann aus einem evidenten Biotopverlust auch auf den Rückgang von Arten geschlossen werden. Aufgrund dieser Faktenlage konnte von den Leugner_innen keine einzige gegenläufige wissenschaftliche Studie angeführt werden, die etwa einen Zuwachs an Artenvielfalt in der Fläche behaupten würde. Lediglich ein Kunstgriff blieb: Die Zahl der absolut ausgestorbenen Säuger- und Vogelarten sei seit Jahrzehnten gering oder nicht existent. Gleichzeitig steige die Artenvielfalt in Europa durch die Einfuhr neuer Arten. Das ist statistisch korrekt. Aber auch wenn vergleichsweise wenige bekannte Arten in Europa absolut ausgestorben sind, so sind sehr viele auf wenige isolierte Inselbiotope zurückgedrängt worden. Ökologische Forschung spricht hier von einem Verlust an genetischer Vielfalt innerhalb der Arten, die auf lange Sicht die Anpassungsfähigkeit einer Art an Veränderungen der Umwelt stark einschränkt. Was die Einfuhr neuer Arten angeht, wird sie als einer der großen Faktoren für den Verlust an Biodiversität benannt. Von der Stieleiche sind über 1500 Insektenarten abhängig, während von der eingeführten amerikanischen Roteiche nur um die 400 Tierarten profitieren. Viele Zierpflanzen werden von der heimischen Fauna vollständig gemieden, und invasive Arten wie das drüsige Springkraut und der japanische Staudenknöterich verdrängen heimische Flora der Auen fast vollständig. Die Leugnung des Rückgangs an Biodiversität ist nichts als antiintellektuelles Ressentiment gegen eine ganze Wissenschaft.

Der Markt für „Insektenschutz“ profitiert von der Unbildung

Die Reaktion des Staates war symptomatisch. Nach Jahrzehnten des Raubbaus versuchten mitteleuropäische Regierungen 2018 plötzlich, mit optisch auffälligen „Blühstreifen“ Aktivität zu suggerieren. Die Pflanzenmischungen sind jedoch eher an das menschliche Auge angepasst: Bunt muss es sein. Den hochspezialisierten und damit besonders gefährdeten Arten nützen Sonnenblumen, Klatschmohn und Phacelia rein gar nichts, solange die Magerrasen weiter verbuschen und Feuchtwiesen drainiert bleiben.

Gleichzeitig entstand ein Markt für „Insektenschutz“: Überall wurden 2018 völlig falsch konstruierte oder kontraproduktive Insektenhotels und unsinnige Saatgutmischungen für Bienenweiden zu völlig überhöhten Preisen verkauft. Profitiert haben allein Baumärkte, Discounter und Saatgutbetriebe, die das Material mitunter noch in Gefängnissen herstellen ließen.

Dabei sind die Maßnahmen gegen das Insektensterben trotz der extremen Komplexität der beteiligten Faktoren sehr einfach. Zunächst müssen letzte Reste von Primärbiotopen wie Flußauen, Urwälder und Wildflüsse bewahrt werden. Weitere wichtige Maßnahmen sind die Schaffung von Kleinstgewässern und die Wiedervernässung von Wiesenflächen und Mooren. Universalrezept für Gärten und ungenutzte kommunale Flächen ist jedoch der Magerrasen. Dazu werden Wiesen extensiv beweidet oder idealerweise einmal im Jahr ab Mitte Juli in Parzellen gemäht und dann das Mahdgut entfernt. Das entstehende Nährstoffdefizit lässt raschwüchsige Starkzehrer wie Glatthafer, Löwenzahn und Brennnesseln verschwinden und öffnet den Raum für eine Vielzahl konkurrenzschwacher Pflanzenarten, darunter die heimischen Orchideen, Heuschrecken- und Schmetterlingslarven können sich bei einer späten Mahd noch voll entwickeln. Weil sich das ökonomisch nicht rechnet und man generell von einem Staatsversagen in Sachen Ökologie sprechen kann, lastet der Erhalt der Artenvielfalt fast vollständig auf den Schultern von ehrenamtlichen Naturschützer_innen und Nebenerwerbslandwirt_innen.

Der Widerspruch von Kapitalismus und Ökologie

Ein großes Hemmnis für den Artenschutz bleibt, dass durch den systematischen Abbau von naturkundlicher Bildung und Forschung unter den technokratischen Regierungen ein völlig verkitschtes und verarmtes Naturbild entstanden ist. Selbst Grundbegriffe der Ökologie können nicht vorausgesetzt werden. Entsprechend einfach gestaltet sich der Massenbetrug durch wirkungslose oder sogar kontraproduktive Symbolpolitik. Dazu gehört die aufwändige Pflanzung von Hecken und Ufergehölzen, die binnen weniger Jahre auch von alleine aufwachsen würden, oder die Verlagerung und Verschleierung von Zerstörung, wie sie durch Palmöl stattfand.

Das bedeutendste Hindernis für das Aufhalten des Artensterbens aber ist der Grundwiderspruch von Ökologie und Kapitalismus. Die Vernutzung von Naturrohstoffen ist eine der beiden Quellen des Mehrwertes – daher wird Kapitalismus seiner inneren Logik zufolge gerade dort, wo ihm in der Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft gewerkschaftlich erkämpfte Grenzen gesetzt werden, auf einen verstärkten Raubbau an Natur drängen. Tatsächlich erscheinen in der Geschichte Naturvernutzung und Ausbeutung der Arbeiter zunächst als vergesellschaftete Probleme. Karl Marx begegnete das Phänomen in der nahezu vollständigen Entwaldung Mitteleuropas für Hochöfen. Diese führte dazu, dass verarmte Menschen durch „Holzdiebstahlgesetze“ von der Konsumption der verbleibenden Holzbestände ausgeschlossen wurden und in kalten Wintern Möbel, Gartenzäune und Hab und Gut verheizten. Ein anderes Beispiel boten die stinkenden Kloaken der Städte mit dem berüchtigten und tödlichen Londoner „Pea-soup-Fog“, ein bereits im 17. Jahrhundert bekannter Smog aus Schwefeloxiden, der noch 1952 zwischen 4.000 und 10.000 Menschen als direkte Todesopfer forderte.

Heute sind Verseuchung und Raubbau weitgehend ins Ausland verlagert. Dadurch wurden nicht nur Europas Flüsse und Städte sauberer, es verfielen auch die Sekundärbiotope. Hatte vormals fast jedes Dorf einen eigenen Steinbruch, so sind heute aufgrund internationaler Konkurrenz nur noch 2000 Steinbrüche deutschlandweit in Betrieb. Das Resultat ist nicht nur ein massiver Rückgang an Arten in den zerstörten Primärbiotopen in Indien oder China, sondern auch jener in Europa, die auf das Sekundärbiotop Steinbruch angewiesen waren.

Naturschutz ist Aufklärung

Neoliberale Ideologie heute ist gezwungen, die Verschränkung der Ausbeutung von Mensch und Natur zu trennen und gegeneinander auszuspielen. Das zentrale Ideologem lautet: Ohne Raubbau verhungern die Arbeiter. Auch bei Marxist_innen mit einer vordialektischen Begeisterung für den Fortschritt verfing diese Behauptung. Der Revolutionstheorie zufolge sei Naturschutz reaktionär, fortschritts- und menschenfeindlich, weil er Natur vor die Bedürfnisse des Menschen stelle. Die Identifikation von wissenschaftlicher Ökologie mit reaktionärem Heimatschutz erlaubte, auf das Erbringen von komplexeren Gedankengängen und Fachwissen zu verzichten, mehr noch, dieses als kontraproduktiv für die „eigentliche Sache“ zu werten. Dass das Naturproblem von Gesellschaft den zentralen Ankerpunkt der Dialektik der Aufklärung bildet, ist Grundbestand der Kritischen Theorie von Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Leo Löwenthal und anderen. Die Kritische Theorie hat stets auf die Synchronie von Naturausbeutung und Verdinglichung des Menschen zu beherrschter Natur verwiesen. Ökonomisch sind in der Tat viele Arten verzichtbar und in einer rationalen Gesellschaft könnte man die Frage nach dem Vorrang des Menschen vor spezifische Arten stellen. Eine Klassengesellschaft aber, die ohnehin nicht den Menschen vor Natur setzt, sondern seine Arbeitskraft ebenso gedankenlos zerschindet wie Natur, ihn dann an anderen Menschen die Unterdrückung von Natur zwanghaft wiederholen lässt, kann diese Abwägung nur im Interesse der Bourgeoisie vollziehen. Der aufklärerische Gehalt von Naturkunde, die mit der Entdeckung von Dinosauriern und fleischfressenden Pflanzen den Untergang der Religionen bewirkte, geht heute zwangsläufig mit der Artenvielfalt verloren. War der ästhetische Genuss ebenso wie das Studium einer großen Zahl verschiedener Arten und damit der Nachvollzug der Evolutionstheorie vormals jeder Dorfschüler_in und jeder afrikanischen Kleinbauer_in vor der eigenen Haustüre möglich, bedarf es heute überall erheblicher Mittel, um in die entlegenen und schrumpfenden Naturreservate zu reisen. Naturkunde, und damit eine tragende Säule der Aufklärung, wird zum Luxus.