MALMOE

„Eine Form von Gehirnlosigkeit, die sich da ausbreitet“

Das Theaterstück Stammbuch 1938 – Nachrichten aus der Barbarei erinnert an die Vertreibung, Enteignung und Vernichtung der Juden und Jüdinnen während des Nationalsozialismus.

Für MALMOE sprach Cornelia Stahl mit Kari Rakkola von Zenith Productions für Theater und Musik über die Entstehung des Stücks, Möglichkeiten des Theaters in einer demokratischen Gesellschaft und das erneute Aufleben rechtsradikaler Tendenzen in Europa.

MALMOE: Im Jubiläumsjahr 1918 – 1938 – 1968 greifen Sie das Jahr 1938 heraus. Was waren die Hintergründe für die Entstehung des Theaterstücks Stammbuch 1938. Nachrichten aus der ­Barbarei?

Rakkola: Wir haben bereits vor ein paar Jahren eine theatrale Gedenkfeier zu den Novemberpogromen in Szene gesetzt. Jetzt gab es die Idee, etwas Neues darüber zu machen.

Warum haben Sie sich dieses Thema ausgewählt?

Leider aus Aktualitätsgründen. Sagen wir es so: Es gibt derzeit wieder eine Form von Gehirnlosigkeit, die sich wieder von rechts außen her ausbreitet. Unser künstlerisches Selbstverständnis ist es, aktuelle politische Themen in künstlerischen Projekten umzusetzen.

Wie kann man unsagbare Dinge, die während der Zeit des Nationalsozialismus geschehen sind, sprachlich und methodisch für die Bühne adaptieren?

Man kann es eigentlich nicht, aber wir nähern uns mit Assoziationen an. Die von uns erzeugten Bilder sind manipulativ. Die Europäer haben eine Art von kollektiver Erinnerung, die man durch kleine Andeutungen hervorrufen kann.

An welche Bilder denken Sie?

Etwa an die Novemberpogrome, an Schmierereien und Hakenkreuze an den Schaufenstern jüdischer Geschäfte, an brennende Synagogen. Aber es geht um Tote, und hier muss man eine gewisse Pietät bewahren.

Bereits vor 1938 waren nationalsozialistische Tendenzen in Europa erkennbar, wie etwa die Bücherverbrennungen oder die Ausstellung Entartete Kunst. Werden diese Ereignisse ins Theaterstück einfließen?

Andeutungen an den Ungeist der Zeit gibt es in unserer Arbeit natürlich, aber wir arbeiten nicht mit Videoprojektionen oder ähnlichem, wenn Sie das gemeint haben. Übrigens sind wir heute nicht weit entfernt von Zensur und Bevormundung von Künstlern. Weil bestimmte Parteien in Regierungen sitzen und auch Kultur für sich als Wirkungsfeld beanspruchen. In dieser Sache gibt es kein links oder rechts, es geht nur um Anstand.

Ilse Aichinger, bekannt durch ihr Buch Die größere Hoffnung, prägte die Metapher „Rede unter dem Galgen“. Inwieweit fließt dieser Text in die Aufführung ein?

Wir beschäftigen uns zum zweiten Mal mit den Bildern und Symbolwelten von Ilse Aichinger. Beim ersten Mal unterstützte sie uns persönlich. Wir lassen uns auch diesmal von ihren Kurzgeschichten inspirieren. „Rede unter dem Galgen“ bezeichnet für mich den Zwang des Künstlers, etwas weiterzugeben, was er in sich hat und unbedingt sagen muss. Auch die Ehrlichkeit schwingt hier mit, die man kurz vor dem Tod hat. Ilse Aichinger hat sich definiert als „Erzähler in dieser Zeit“ und meint damit: Man muss direkt reden, nicht auf Umwegen.

Borcherts Nachts schlafen die Ratten doch fließt ebenfalls in das Theaterstück mit ein. Worin liegen die Hintergründe der Textauswahl?

Wolfgang Borcherts Kurzgeschichte beinhaltet sehr viel Symbolik und zeigt gut, wohin das Jahr 1938 schließlich geführt hat. Von Erich Kästner haben wir auch einen Text mit direktem Wien-Bezug gefunden.

Den Wien-Bezug findet man eher bei Ruth Klüger.

Wir haben auch darüber nachgedacht, Texte von Ruth Klüger zu nehmen, es aber wieder verworfen. Von ihr müsste man eine längere Passage nehmen, denke ich. Mit Ruth Klüger muss man etwas anderes machen, etwas Abendfüllendes. In unserem Vorgespräch haben Sie das Wort „Betroffenheit“ erwähnt. Vom Betroffen-Sein geht aber eine Gefahr aus, dass die Fähigkeit abgetötet wird, analytisch zu denken. Anders gesagt: Emotionelle Reaktionen sind nicht immer jener Anstoß zum Denken, der sie sein sollten.

Wen wollen Sie direkt ansprechen, was wollen Sie auslösen?

Wenn wir den ganz normalen Skateboarder erreichen würden, wäre ich glücklich. Wir wollen einfach Leute ansprechen, die normalerweise nicht ins Theater gehen. Unser Ziel ist es, einen Gedankenprozess durch Identifikation anzustoßen, also durch die Erkenntnis, dass die damaligen Aggressionen hauptsächlich ganz normale Leute getroffen haben.

Die Nationalsozialisten haben keine Unterschiede bei ihrer Vernichtung gemacht!

Ja, getroffen hat es letztlich viele. Die Propaganda hat eine Minderheit zu Sündenböcken gestempelt, eine Art Schmähbild von ihnen gezeichnet. Die meisten von ihnen waren ja eigentlich ganz normale Arbeiter und Handwerker.

Zenith Productions arbeitet an Projekten, die das politische Bewusstsein anregen und ist nicht gewinnorientiert. Wie finanziert sich Ihre Arbeit?

Wir bekommen immer wieder kleine Projektförderungen, etwa von Bezirken, Kooperationspartnern oder Kulturorganisationen. Niemand von uns kann es sich leisten, ausschließlich von Zenith Productions zu leben. Ich selbst bin Lehrer für Körpersprache und dramatische Projekte an der Schauspielschule Krauss und bei DiverCity Lab. Ich habe meine Ausbildung großteils in Finnland und in Dänemark gemacht. Ich bin beim Fach Körpersprache geblieben, obwohl ich im Gymnasium sehr unbeweglich war.

Wie lange sind Sie schon in Wien?

Mittlerweile schon länger als ein Vierteljahrhundert. Zwischendurch zieht es mich aber immer wieder in andere Länder. In Finnland habe ich vor Kurzem an der Sibelius-Akademie unterrichtet, im Vorjahr habe ich in Afrika, in Benin, fünf Wochen lang neue Aspekte von Körpersprache gelernt. Mittlerweile bin ich geweihter Voodoo-Krieger. (Lacht).

Die Uraufführung von Thomas Bernhards Heldenplatz provozierte die ZuschauerInnen. Ist Provokation im Sinne von Wachrütteln, Bewusstseinsbildung auch bei Ihnen intendiert?

Thomas Bernhard war natürlich ein Meister der Provokation, ganz großartig! Damals gab es auch noch viel mehr Alt-Nazis, und die sind auch ins Theater gegangen und haben laut „Buh!“ geschrien. Heute haben wir das Problem der schleichenden Verharmlosung. Mit Provokationen und Skandalen sind gegenwärtig keine nachhaltigen Veränderungen zu erreichen. Für die letzte gelungene Skandalaktion hat Schlingensief mit seinem Flüchtlingscontainer vor der Oper gesorgt. Also, ich suche keine Provokation – jedenfalls nicht direkt.
Ich habe einmal in einem Jura-Soyfer-Stück mitgespielt, einen Nazi. Nach der Vorstellung haben mir Leute auf die Schulter geklopft. Die haben nicht kapieren wollen, worum es gegangen ist. Sogar von Provokationen können die Leute von rechts außen in ihrer Kurzsichtigkeit Bestätigung holen.

Die jüngsten Ereignisse im sächsischen Chemnitz geben zu denken. Welche Rolle kommt dem Theater zu, wenn demokratische Strukturen ins Wanken geraten?

Theater kann vielleicht mithelfen, dass es gar nicht erst so weit kommen kann. Ob solche dumpfen Menschen überhaupt ins Theater gehen, weiß ich nicht. Wenn ein TV-Star oder ein beliebter Volksmusikant seine Stimme erhebt, findet er in diesem Publikum wohl mehr Gehör. Was Theater aber leisten kann und muss, ist, eine Plattform für kritische Diskussionen zu sein.

Das Theaterstück Stammbuch 1938. Nachrichten aus der Barbarei wird im November 2018 gezeigt, nicht nur im Volkskundemuseum, sondern auch auf öffentlichen Plätzen und in öffentlichen Räumen. Sind Aufführungen ebenso in den Außenbezirken geplant?

Wir zeigen unsere szenische Performance viermal im Volkskundemuseum und weiters an ausgewählten Orten Wiens, die einen historischen Bezug zum Thema haben, wo zum Beispiel Synagogen standen, etwa im zweiten, fünften, neunten und sechzehnten Bezirk.

Wie hebt Ihr Euch von anderen Theatergruppen ab, die ähnliche Themen bearbeiten?

In unserer Gruppe gibt es Leute aus verschiedenen Nationen und Kulturkreisen, was natürlich die Perspektive verbreitert.

Wie viel Personen seid Ihr?

In diesem Projekt sind wir zu fünft. Deborah Gzesh ist jetzt vor unserem Projekt im Theater Drachengasse zu sehen, in Crossing Jerusalem. Musikdramaturgie spielt in unseren Stücken eine große Rolle. Wir arbeiten in bewährter Weise mit dem österreichisch-argentinischen Gitarristen Walter Nikowitz zusammen.

Euch geht es darum, die Stimme zu erheben, um vielleicht eine Kettenreaktion in eine andere Richtung auszulösen? Jo Fabian – vom Staatstheater Cottbus, spricht von einer Stimmung, die Theater erzeugen kann. Welche könnte das sein?

Es geht uns darum, das „Laufpublikum“ zu erreichen, möglichst niederschwelligen Zugang zum Theater zu ermöglichen. Der Herr aus Cottbus redet wohl von der Magie des Theaters, dass ein Anstoß zum Denken sein kann. In diesem Sinn wollen auch wir das Publikum anregen, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen, vor allem Jugendliche.

Aber Jugendliche sagen von sich, dass sie nicht in dieser Zeit gelebt haben.

Eben. Man geht irgendwie davon aus, dass Wörter wie „Auschwitz“ für sich selber sprechen, aber das gilt für viele Jugendlichen nicht. Wir müssen direkt darüber sprechen und erzählen, was damals passiert ist. Wir versuchen, diese Thematik ohne schulischen Zwang zu vermitteln, denn das Theater bietet andere Möglichkeiten des Erzählens, eben mit einfachen künstlerischen Mitteln einen Berührungspunkt zu finden, ohne dabei in eine verfremdete Hollywoodstory abzugleiten.

Für LehrerInnen wie für SchauspielerInnen gilt: Wer für eine Sache brennt, kann ausbrennen.

Ich habe früher drei Jahre als ausbildender Regisseur im Auftrag des Kulturamts Helsinki gearbeitet. Das war so anstrengend und auslaugend, dass ich gedacht habe, das mache ich nie wieder. Nach einer langen Pause bin ich mittlerweile in Wien, aber auch schon wieder mehr als zehn Jahre als Schauspiellehrer tätig. Man bekommt viel zurück bei dieser Arbeit. Und man kommt dabei auch weiter, weil man selbst als Künstler viel dazu lernt.