Die fabelhafte Welt der Körpersäfte (#7)
Einst war die Galle einer, besser gesagt zwei, der vier Kardinalsäfte. Heute ist sie so sehr in Vergessenheit geraten, dass wir nicht genau wissen, was sie eigentlich ist. Ist sie ein Organ oder eine Flüssigkeit? Ist sie giftig? Und wozu ist sie überhaupt gut?
Schulmedizinisch betrachtet, ist die Galle eine Flüssigkeit, die in der Leber produziert, in der Gallenblase gespeichert wird, und für den Abbau von Fetten im Darm verantwortlich ist. Die Gallenblase an sich ist nicht notwendig, man kann auch ohne sie leben. Entstehen schmerzhafte Steine in der Gallenblase, wird diese kurzerhand entfernt. Der einzige Nachteil für gallenblasenfreie Menschen ist, dass das Schnitzel etwas schwerer im Magen, genauer gesagt im Darm liegt.
Aber früher, da war die Galle, auch cholé genannt, noch wer bzw. noch mehrere. Ein Zuviel oder Zuwenig von schwarzer wie gelber Galle hatte recht dramatische Auswirkungen. Zuviel des gelben Saftes und schon der nächste cholerische Ausbruch. Zu viel schwarze Galle hingegen, und man verfiel in romantisch-tragische Melancholie. Bis heute hält sich der Mythos, dass bei Sektionen von Selbstmörder_innen eine schwarze Flüssigkeit vorzufinden wäre.
Während inzwischen allgemein anerkannt ist, dass die schwarze Galle ein geistiges Produkt der Antike ist und keine reale Entsprechung hat, verhält sich die Sache bei der gelben Galle genau umgekehrt. Viele verschiedene uns bekannte Körpersäfte wurden unter dem Begriff der Galle subsumiert: Kotze, Eiter, Dünnschiss – so ziemlich alles, was gelblich ist und aus dem Körper austritt, galt als Galle in ihren unterschiedlichen Erscheinungsformen. Diese Säfte schützen uns gegen Giftstoffe. Unser Immunsystem bildet Eiter, um gegen schadhafte Bakterien anzukommen. Vertragen wir etwas nicht, kommt es oben oder unten schnell wieder raus. Ein ziemlich nützlicher Saft also, die vormoderne cholé.
Doch bei all den Diensten, die uns die Galle leistet, wo bleibt ihre kulturelle Wertschätzung? Blut, Schweiß und Tränen füllen ganze Poesiebände; Sperma und Urin können Abende mit politischer Konversation füllen, aber die Galle? Die Galle steht für die Wut, kein berechnender Hass oder geplante Bösartigkeit, sondern ausbruchsartige, impulsive, überlaufende Empörung, die eine_n Gift und Galle spucken lassen. Warum ist die Galle so in Vergessenheit geraten? Ist der spontane Wutausbruch heutzutage nicht mehr gewünscht, nicht akzeptiert?
Gerade angesichts der unerträglichen politischen Verhältnisse brauchen wir eigentlich alle etwas mehr überlaufende gelbe Galle, die uns vor der giftigen Normalität mit einem gesunden Wutausbruch schützt. Die depressive schwarze Galle kann ruhig ein romantisches Relikt aus der Vergangenheit bleiben – politisch bringt uns die Depression nämlich genau nichts. Sie lässt uns alle in entsetzter Reglosigkeit verharren und die Augen verschließen vor den unerträglichen Zuspitzungen der Verhältnisse. Die cholerische Galle hingegen würde einfach jedes einzige Mal überlaufen, wenn die Regierenden wieder eine zynische Wahnsinnigkeit beschließen oder die Mitmenschen eine idiotische Meldung von sich geben.
Also – MEHR GALLE FÜR ALLE!