Gestörtes Störendes (#7)
Als ich nach Wien zog, um zu studieren, war für mich klar, dass es Psychologie sein müsste, da ich „die Menschen“ (gemeint waren wohl die Menschen in meiner Geschichte) verstehen wollte – was für eine Illusion angesichts der Realität des Studiums. Der Freund, in dessen Windschatten ich damals nach Wien gekommen war, hat sich hingegen für Politikwissenschaft entschieden – für mich eine absurde Wahl. Aber wir waren da schon immer unterschiedlich: Wo ich zum Psychologischen tendierte, zog es ihn zum Politischen. Ich fühlte mich überlegen, da ich mich näher an den „wahren“ Handlungsgründen wähnte, während er doch nur innere Konflikte unreflektiert nach außen trug. Ich sah „die Gesellschaft“ nicht als politisches Feld, sondern als Ort, gewissermaßen als allgemeinste Umwelt, an welchem sich Menschen treffen und interagieren. Die Art und Weise, in der sie das tun, hat ihren Ursprung in der jeweiligen Geschichte. Mir gefielen damals z. B. die Bücher von Volker Elis Pilgrim gut, der das Handeln berühmter Männer aus den familiären Konstellationen zu erklären suchte. Psychologie war somit etwas Individuelles und aus vielen individuellen Psychen resultierte dann so etwas wie „Gesellschaft“. (Nebenbei bemerkt beschreibt das ziemlich genau das Gesellschaftsbild der vorherrschenden Psychologie.) Erst in einzelnen Seminaren und besonders durch die Lektüre von Berger und Luckmanns „gesellschaftlicher Konstruktion der Wirklichkeit“ wurde mein „political turn“ ausgelöst.
Ich denke, wir haben Angst, unsere persönliche Geschichte in unseren politischen Kämpfen zu suchen und zu erkennen. Wir denken, individuelle, rein psychische Gründe würden das reine politische Engagement schwächen bzw. kontaminieren. Meine Kritik an Männlichkeit und Patriarchat und die Tatsache, dass ich mich in der Gesellschaft von Frauen in der Regel wohler fühle, hat weniger mit politischem Bewusstsein zu tun, sondern gründet eher in der Tatsache einer „missglückten“ männlichen Sozialisation: Ich war ein depressives, dickes Kind mit einer psychisch (nennen wir es mal:) instabilen Mutter, einem abwesenden, konkurrenz- und leistungsfixierten Vater und einem sadistischen, übergriffigen Stiefvater. Ich habe den Männlichkeitsanforderungen in den Jungengruppen nie zu genügen gewusst und war dort gewissermaßen Zaungast. Eine meiner Motivationen für meine patriarchatskritische Haltung ist somit wohl auch mein Wunsch, den Ort, den ich nie erreichen konnte – eine „geglückte Geschlechtssozialisation“, zu dekonstruieren, ihn zu entzaubern, um den Schmerz meines „Versagens“ zu lindern. Diese zutiefst persönliche Motivation schwächt jedoch nicht die politische Qualität meiner Haltung. Die Reflexion des Entstehungshintergrundes meiner Motivation ermöglicht es mir, mich bewusst zu meinen viel- und tiefschichtigen Gefühlen zu verhalten, anstatt von ihnen getrieben zu werden. Was mir auffällt, wo ich das schreibe: Die Politisierung bzw. Sensibilisierung für Zusammenhänge beschränkte sich nicht nur auf die Gesellschaftsebene, sondern erfasste auch meine familienbiographische Seite. So, wie ideologische Verblendungen auf gesellschaftlicher Ebene sich als Trugbilder herausstellten, so zerbröselten langsam auch Familienmythen. Das Politische ist somit immer auch psychologisch, so wie die Psyche politisch. Mein Freund und ich hatten beide recht, nur haben wir es damals nicht zusammengedacht.