MALMOE im Interview mit dem Architektur- und Stadtforscher Robert Temel über den sozialen Wohnbau in Wien
Elf Jahre lang (2007–2018) war Michael Ludwig Wohnbaustadtrat bevor er am 24. Mai 2018 zum Wiener Bürgermeister wurde. Wien-Bonus, SMART-Wohnungen und Ordnungsberater – diese Maßnahmen sind wohl den meisten in Erinnerung geblieben. 2018 leben 50 % der WienerInnen im sozialen Wohnbau, eine Hälfte im geförderten Wohnbau, die andere in Gemeindebauten.
MALMOE: Als Wiener Wohnbaustadtrat ist Michael Ludwig Geschichte. Was ist das wohnbaupolitische Fazit seiner Ära?
Robert Temel: Ludwig hat keine grundsätzlich strategischen Änderungen vorgenommen. Eine aus meiner Sicht wesentliche Sache ist aber die Einführung eines vierten Kriteriums für den Bauträgerwettbewerb und den Grundstücksbeirat, also jene beiden Modelle nach denen in Wien städtische Grundstücke verkauft und Wohnbauförderung vergeben wird: Neben Architektur, Ökonomie und Ökologie hat Ludwig die soziale Nachhaltigkeit als Kriterium, das die BewerberInnen erfüllen müssen, eingeführt. Das finde ich sehr wichtig und positiv.
Eine weitere Änderung war der Start des SMART-Wohnbauprogramms. Hintergrund war, dass große Teile des geförderten Wohnbaus immer mehr den Mittelstand angesprochen haben. Vor allem die relativ hohen Eigenmittelanteile sind für untere Einkommen nicht finanzierbar. Das SMART-Wohnbauprogramm sollte das ändern. SMART-Wohnungen haben einen niedrigen Mietpreis, der fixiert ist und eine klare Obergrenze für Eigenmittel. Ein Drittel der geförderten Wohnbauleistung sind SMART-Wohnungen. Das war sicher ein entscheidender Schritt, weil das auch in einer Zeit war, als in Wien die Mietpreise enorm gestiegen sind und der Nachfragedruck nach Sozialem Wohnbau enorm zunahm.
Wenn man in Wien über sozialen Wohnbau redet, ist man auch schnell im Bereich der Vergangenheitsnostalgie. Kein Wunder, baut der „Mythos des Roten Wiens“ doch stark auf den Gemeindebauten auf. 2004 wurde der letzte „wirkliche“ kommunale Gemeindebau errichtet, bei dem die Stadt nicht nur, wie beim geförderten Wohnbau, als Auftraggeberin, sondern auch als Eigentümerin und Vermieterin fungiert. Was bedeutet diese Abkehr vom Gemeindebau?
Dass es den Gemeindebau nicht mehr gibt, stimmt ja so nicht, schließlich gibt es die 220.000 Gemeindewohnungen im Eigentum der Stadt, die auch weiter betrieben werden. Damit ist die Stadt Wien eine der größten Immobilien-Eigentümerinnen Europas. Das ist schon sehr außergewöhnlich, wenn man das mit anderen Städten vergleicht. 2004 wurde aufgehört, weiter zu bauen. Das ist natürlich eine politische Entscheidung, die man kritisieren kann, und womöglich wäre es anders sinnvoller gewesen. Aber es ist denke ich kein dramatischer Paradigmenwechsel.
Nach der letzten Gemeinderatswahl 2015 gab es das Versprechen, wieder neue Gemeindebauten zu errichten. Die Gemeindewohnungen von heute unterscheiden sich im Endeffekt aber nicht sehr vom geförderten SMART-Wohnbauprogramm. Der einzige, wenn auch wesentliche, Unterschied ist, dass es bei den Gemeindebauten keine Eigenmittel gibt. Aber – egal ob im Gemeindebau oder im Bereich des geförderten Wohnbaus – der billigste Wohnbau, der in Wien aktuell zugänglich ist, ist ohnehin nicht der Neubau, sondern das sind die Bestände aus den 60er und 70er-Jahren. Damals hat man sehr billig gebaut und diese Wohnungen sind nach wie vor billig, weil es eine Kostenmiete gibt und gar nicht mehr verlangt werden kann.
Was sind die zentralen Baustellen im Bereich des sozialen Wohnbaus in Wien?
Die wesentliche Frage im Moment ist jene der Bodenpreise. Wenn es so weitergeht, wird es in ein paar Jahren schwierig sein, überhaupt noch wo in Wien gefördert zu bauen. Weil es auch mittlerweile kaum mehr möglich ist, Grundstücke zu akzeptablen Preisen zu bekommen.
Hinzu kommt, dass aufgrund der Bodenpreissteigerungen der geförderte Wohnbau inzwischen einen viel kleineren Teil an der gesamten Wohnbauleistung ausmacht. Und wenn der Anteil an gefördertem Wohnbau abnimmt, dann steigt der Druck auf die Mieten. Der frei finanzierte Bereich ist sehr groß geworden. Und dort sind die Preise enorm und die Qualität oft schlecht. Und das ist der wirklich problematische Bereich, wo man versuchen müsste politisch einzugreifen.
Inwieweit ist Wien, was den sozialen Wohnbau betrifft, überhaupt vergleichbar mit anderen Städten?
Die aktuellen Probleme mit der Bodenspekulation, den Baupreissteigerungen und dem Bevölkerungsdruck, die sind in allen großen Städten in Österreich und auch in Europa ähnlich.
Die Situation im Wohnbaubereich ist in Wien aber auch Österreich generell schon speziell. Den Sektor der gemeinnützigen Bauträger gibt es z.B. in Deutschland schon lange nicht mehr. Und diesen massiven Bestand an gebundenen Wohnungen, egal ob kommunaler oder geförderter Wohnbau, gibt es nirgendwo anders als in Wien. In Deutschland haben sehr viele Städte ihre kommunalen Bestände verkauft und sie kämpfen mit dem Problem, dass es zwar mietpreisgebundene Wohnungen gibt, die aber alle nach 10 bis 15 Jahren aus der Bindung herausfallen. Das ist in Österreich nicht der Fall.
Das Problem bei uns ist eher der Mietkauf, das ist leider Bundesrecht. Seit etwa 20 Jahren gibt es die Vorgabe, dass unter bestimmten Bedingungen die gemeinnützigen Wohnbauträger die Wohnungen nach 10 Jahren den MieterInnen zum Kauf anbieten müssen. Und das ist natürlich ein Problem, weil damit die Wohnungen privatisiert werden, damit für immer für den sozialen Wohnbau verloren sind und auf die Preise drücken.
Was ist der Hintergedanke bei solchen Regelungen?
Beschlossen wurde das in den 1990er-Jahren unter Rot-Schwarz, das war wohl ein politischer Deal. Aber klar ist für die ÖVP die Eigentumsbildung das zentrale Ziel der Wohnbauförderung. Es ist leider zu erwarten, dass auf Bundesebene dieser Fokus auf Eigentum noch weiter verstärkt wird.
Wenn ich mir die „normalen“ geförderten Wohnungen, als nicht das SMART-Programm zum Beispiel, ansehe, so sind die meist recht teuer plus Eigenmittelanteil. Ich frage mich: Wer kann sich das überhaupt leisten?
Ja, diese Mieten steigen, wobei es schon Kostengrenzen gibt. Die politische Entscheidung, die hier dahintersteht ist, dass der geförderte Wohnbau in Wien nicht nur für den Sektor der niedrigsten Einkommen gedacht ist, sondern für ein breites Bevölkerungssegment, bis weit in die Mittelschicht. Der soziale Wohnbau steht für sehr viele offen und man will eine stärkere soziale Durchmischung. Das führt dazu, dass zumindest ein Teil der Wohnungen teurer wird, weil irgendwo muss das Geld ja herkommen. So lange es entsprechend dem Bedarf Angebot an wirklich kostengünstigem Wohnraum gibt, ist das in Ordnung, finde ich.
Seinen Ruf als rechter Sozialdemokrat hat sich Michael Ludwig auch durch die Einführung des Wien-Bonus 2015 erarbeitet. Der Wien-Bonus bedeutet, dass „sich neue WienerInnen wie bei der Supermarktkassa hinten anstellen müssen“, sprich der soziale Wohnbau neu nach Wien kommende Menschen, die billiges Wohnen meist besonders bräuchten, erstmal ausschließt.
Ich finde solche Regeln nicht sinnvoll, aber das war ein klares politisches Signal nach rechts. Grundsätzlich muss man sagen, dass die Öffnung des sozialen Wohnbaus für Nicht-ÖsterreicherInnen generell eine relativ junge Entwicklung ist. Der Sektor, in dem früher Zuziehende aus dem Ausland kostengünstig untergekommen sind, war immer der Gründerzeitbau: die Substandard- und Bassenawohnungen, die es heutzutage kaum mehr gibt. Dass Nicht-ÖsterreicherInnen keinen Zugang zum sozialen Wohnbau hatten, war deshalb lange kein Thema, weil es eh woanders auch günstigen Wohnraum gab. Das ist jetzt nicht mehr so und hat sich weiter verschärft durch die steigende Zuwanderung. Nach der Öffnung wurde der Zugang jetzt wieder verschärft. Solche ausschließenden Regelungen entsprechen leider dem Zeitgeist.
In Ludwigs Zeit fallen auch riesige Wohnbauvorhaben und Stadterweiterungsgebiete: Die Seestadt oder das Nordbahnhofgelände zum Beispiel. Sind solche Großprojekte sinnvoll, auch vor dem Hintergrund der sozialen Durchmischung?
Die großen Projekte gibt es in erster Linie, weil der Nachfragedruck zugenommen hat. Die Größe allein ist allerdings nicht automatisch ein Argument dafür, dass es homogener und weniger durchmischt sein muss. Man kann das in diesen großen Projekten auch machen und steuern, wenn man will. Und das passiert vor allem dann, wenn solche Projekte schrittweise realisiert werden wie das in Aspern der Fall ist. Stadtplanerisch hat es schon auch Vorteile, sich ein großes Gebiet anzuschauen und nicht nur eine kleine Baulücke zu füllen.
Qualitativ sind die Unterschiede in solchen Projekten sehr groß. Also in Aspern ist sicher sehr viel Neues probiert worden, zu einem großen Teil auch erfolgreich. Es gibt eben Vorzeigeprojekte, wo viel Wert auf Qualität gelegt wird. Und es gibt Projekte, wo weniger hingeschaut, und wo alles eher standardmäßig umgesetzt wird.
Was ist neu an Projekten wie der Seestadt Aspern und kann man davon lernen?
Die Qualität des öffentlichen Raums, die Mischung mit anderen Nutzungen vor allem in der Erdgeschosszone, das Mobilitätskonzept, auch die verschiedenen Wohntypen die man zusammengebracht hat, die Baugruppen … das sind alles Dinge, die sehr gut funktioniert haben und in denen man von Phase zu Phase lernt. Es gibt dort auch eine Entwicklungsgesellschaft, die sich nicht nur als Immobilienhändler versteht, sondern auch einen inhaltlichen Anspruch hat. Das gibt es in den meisten anderen Gebieten nicht. Leider wird vieles von der Seestadt nicht für andere Gebiete übernommen. Man kann also nicht sagen, dass dadurch neue Standards gesetzt worden sind. Aber wenn man die aktuellen Projekte mit den großen Entwicklungsgebieten der 1990er-Jahre vergleicht – Donaucity, Wienerberg, Monte Laa etc. –, dann gibt es schon Fortschritte.
Auch die „wohnpartner“, die „Wiener Hausordnung“, oder das neue Hausbesorgermodell („Ordnungsberater“) gehen auf Ludwig zurück. Diese Maßnahmen werden als ordnungspolitisch repressiv oder als pragmatische Konfliktlösungen beschrieben. Wie schätzen Sie das ein?
Vielleicht hätte es da bessere Lösungen gegeben, aber grundsätzlich sind die Gemeindebauten ja Wohn- und Lebenssituationen, wo es früher soziale Strukturen gegeben hat, in die die Leute eingebunden waren und die auch dazu beigetragen haben, dass das Miteinander funktioniert. Und diese Strukturen sind über die Jahrzehnte größtenteils weggefallen. Jetzt versucht man, auf sehr künstliche Weise, wieder etwas zu initiieren. Ob das der beste Weg war, weiß ich nicht. Aber irgendeine Form der Reaktion auf entstehende Konflikte ist wahrscheinlich sinnvoll.
Durch den Wegfall der sozialen Strukturen ist auch ein politisches Vakuum erzeugt worden, in das die FPÖ hineingeströmt ist. Das war sicher der Hauptgrund, warum man hier seitens der Stadt zu handeln begonnen hat.
Was ist von Michael Ludwig als Bürgermeister und seiner Nachfolgerin als Wohnbau-Stadträtin Kathrin Gaal zu halten?
Gaal kenne ich bisher nicht, ich bin also schon neugierig. Ludwig selbst wird in der Öffentlichkeit als rechts positioniert. Aber wie sehr das jetzt mit Haltungen und vor allem mit Handlungen zu tun hat, und darum geht es letztlich, kann ich im Detail schwer sagen und bleibt abzuwarten. Mit seiner Tätigkeit als Wohnbaustadtrat lässt sich das nicht belegen.