MALMOE

Wenn man nichts bestimmtes sein muss, nichts bestimmtes sein

Passagencollagen (#1)

Die Serie Passagencollagen ist eine Kooperation zwischen MALMOE und dem Kollektiv und Zeitschriftenprojekt Tortuga. Seit 2013 behandelt Tortuga Themen wie GRENZE, LÄRM, KÖRPER und die Vorsilbe VER im Rahmen von Heften, Hörspielen, Performances und Veranstaltungen in Wien und der Steiermark.

Tortuga #3 KÖRPER ist 2017 als vierteilige Reihe erschienen: #3.1 schöner, #3.2 Körperdinge, #3.3 Identitäten und #3.4 innenaußen. Spontan und hauptsächlich analog sind zuletzt die Ausgaben zur Vorsilbe VER entstanden: VERSCHWIMMEN, VERWANDELN und das im Rahmen eines Workshops mit Kindern erarbeitete VERRÜCKT. Der Großteil der selbstgestalteten Hefte wurde vom Tortuga–Kollektiv selbst gedruckt und gebunden.

Die scheinbar feste Form und Anordnung des Inhalts der beiden letzten Reihen wird über die nächsten vier Ausgaben der MALMOE an dieser Stelle wieder aufgelockert, Beiträge werden herausgenommen, in Kontrast gestellt, zerschnitten, wieder zusammengeklebt – sie verschwimmen miteinander, verkörpern sich gegenseitig.

„Manchmal schafft eine Identitätskrise eine neue Identität oder zerstört eine frühere.“
(Identitätskrise – Fatemeh Naderi)

„Es ist eine Distanz, die mich zu meiner Erkenntnis führt.“
(Inhalt – Stefan Manuel Eggenweber)

Vom Weitem betrachtet, ist die Welt Wasser, der Mensch Körper und jedes Wort sehr groß. Die im Wasser Schwimmende verrührt die Bestandteile, mischt mit Händen und Füßen durch. Rückenschwimmend liegen die Wolken, das Weltall, völlig andere, neue Dimensionen im Blickfeld.
Trotz zusammengekniffener Augen sind weder die Sterne am Himmel noch das Plankton unter der Wasseroberfläche klar erkennbar. Während manche der Himmelskörper herunterfallend verglühen, bleibt das Plankton Umhergetriebenes, Schwebendes in der Strömung des Wassers. Hin und wieder schmiegen sich die Partikel an den Bug der Schiffe, bleiben am Anker kleben, oder betrachten Fersen, Ellbogen und andere ungeahnte Körperteile im Detail.

„soweit ich denken kann / bin ich im freien Fall“
(Parts – Martin Kollmann)

„So benetzt denkt es sich leichter als in ­Kleidung, denk ich mir“
(Editorial #3.3 Identitäten – Lisi Pressl)

Ein Tropfen, gemeinsam mit einer Billion anderer frei fallend, der so weit denkt, bis ihm sein Absturz im Wasserstrom der Dusche oder im Fluss über die Erdkrümmung als Grenze des Denkbaren erscheint, benetzt einen kleiderlosen Körper, wiederum denkend, dass es sich so am leichtesten denkt. In der Dusche ist es leichter sich nicht zu verschwimmen als in der Strömung flussabwärts.

Gestern ging es um Alles.

„Ja, genau um dieses allumfassende Gewebe, das sich zuletzt zwar aus den kleinen Ausschnitten zusammensetzt, aber in seiner ganzen Komplexität gedacht und begriffen werden muss, geht es mir. Mein Blick glitt weiterhin an sämtlichen Anhaltspunkten ab, beim Umherwerfen blieb er kaum hängen, sah das „Das“ nicht, zumindest nicht als solches. […] Wenn nicht ich, würde vielleicht jemand anderer hier teilweise Bescheid wissen.“
(Verschwimmen – Tortuga)

Und hier um Teile.

„Je fragmentarischer, umso mehr Spielraum lassen diese Bilder den Verbindungen, die zwischen den Bildern hergestellt werden können, und so lassen wir die anderen, jene für die sie gedacht sind, die sie sehen sollen, sich ein Bild von uns machen. Die Gesetzmäßigkeiten der Bildzerlegung, der Fragmentierung, der Inszenierung unserer Bilder sind dabei oft mit jenen ident, mit denen wir erwarten, dass sie auch wieder zusammengesetzt werden.“
(Körper. Spiegelung und Spaltung – ­Philipp ­Markus Schörkhuber)

Die Wasserleitungen in den Wänden sind Verbindungsstücke, geheime Sprachrohre von Wohnung zu Wohnung, im Grundriss unvermerkte Wasserwege für Flaschenpost. Oder durchlöchern etwa die Rohre die Mauern, um sie zu Fall zu bringen? Sind sie wie Flüsse, die Landkarten kreuzen, als wollten sie Grenzen durchstreichen, tosende Übergänge von Land zu Land, zu offensichtlich verzeichnet, um gesehen zu werden?

Wir zoomen, spreizen Zeigefinger und Daumen auseinander.

„Wir mussten es besuchen und be-handeln, damit aus dem Ort wieder ein Raum wurde, ein Raum mit einer Richtung, aus der fixen Ordnung eine Geschichte.“
(Wer tanzt im Archiv? oder: Das Repertoire der VBKÖ – Franziska Kabisch)

Und wieder auseinander und noch weiter hinein.

„Atome sind keine Baukastenprodukte, die aus bewegungslosen Entitäten zusammengesteckt sind.“
(Nachrichten vom New Materialism an den Körperbegriff – Stefan Schweigler)

Die Ordnung ist flimmernd beweglich und neu zusammensetzbar, erhaben und dennoch umherschwirrend wie etwas Fallendes, das fast schon schwebt.

„Ich werde von den Mücken als angenehm empfunden.“
(Pfad 22 – Ron Winkler)

„Dazwischen die Freiheit suchen – ein Zwischen-den-Zeilen-sich-Schütteln, Sich-Finden.“
(Editorial zu #3.3 Identitäten – Adina F. Camhy)

Suchen, bis die Mücken an der Donau einen nach Sonnenuntergang noch mögen, bis man bleiben kann, nicht rennen muss vor etwas, das entweder gar nicht so schlimm ist, oder etwas, das noch viel schlimmer ist: riesengroße Angst vor Stichen in der Haut, die einen so zusammenhält, wie man ist, vor Narben, die zu erklären sind, die erzählt werden müssen, um sichtbar sein zu dürfen, vor Schmerzen, die verletzen, seien es nur die einer (oder, um fair zu sein, hunderttausender) Gelsen. Vielleicht dort bleiben, bis das Wasser, die Hochhäuser, die Bäume, die Autobahn und die wo auch immer hin nach Hause fahrenden Eiswagons zu einer Gestalt verschwimmen, deren Unklarheit keine auszuhaltende Last ist, sondern eine Freude zu entdecken. Das ist eine Möglichkeit wie man Unklarheit begegnen kann, die in ähnlicher Weise gegenüber der eigenen zu versuchen ist: Wenn man nichts Bestimmtes sein muss, nichts Bestimmtes sein.

„Nichts zu sehen und trotzdem zu sehen. Kritisch zu tasten. Es auszuhalten. Zu phantasieren und im Nebel die Richtung zu riechen. In der trüben Suppe schwimmen zu gehen und in den Graustufen Monster zu erkennen, sich aber keine Furcht einzureden vor den eigenen Gedankenformationen.“
(Tauchen in der Unschärfe – Tortuga)

„Der Tag ist laut.“
(Der Körper – Marie Luise Lehner)

„Ich ging an diesem Tag durch eine andere Sprache / an den Strand“
(alles aus dem Du – Ron Winkler)

Es kamen nicht alle an. Nicht jeder verstand.

Es spricht sich nicht mehr so gefahrlos über Strände, wie man es vielleicht möchte.

Wenn man zu sprechen beginnt, verliert man viele, egal, was man sagt. Es ist nicht leicht zu folgen und zu gehorchen. Es ist nicht leicht zu verlieren.

In der Dusche belegt der Dampf das Glas. Die Donau fließt ins Schwarze Meer. Wir tauchen in der Unschärfe.

„Gleichsam liegt der Verschwommenheit auch ein Gefahrenpotential inne. Wer unscharf sieht, muss aufpassen, nicht verloren zu gehen. […] Es gilt also genau hinzuschauen, wenn die Dinge undeutlich werden.“
(Tauchen in der Unschärfe – Tortuga)

„Ist die Erhabenheit des wogenden Meeres ein Effekt des menschlichen Geistes, der sich in aufgeklärte Relation zu einem einfach nur großen Gegenstand stellt?“
(Nachrichten vom New Materialism an den Körperbegriff – Stefan Schweigler)

Wir wollen Wellen schlagen, damit der Horizont weiter geht als die Linie, die er zu sein vorgibt. Das Flache kräuseln, um den Augen im Spiegel noch ins Gesicht sehen zu können, wenn man die Geschichtsbücher der Zukunft liest.

Die regelmäßige Veränderung der Größe des Abstands zwischen Daumen und Zeigefinger, steter Richtungswechsel der Bewegung beim Betrachten der Dinge. Pendelnde Weitsicht. Distanz und Nähe, Silhouette und Poren, einen Schritt zurück und zwei nach vorne. Zusammengekniffene Augen, eine grobe Schätzung. Das Flache kräuseln. Der Baum im Wald verhält sich wie der frei fallende Tropfen zur Donau und der Körper zum Verschwimmen: nicht eindeutig erkennbar trotz der offensichtlichen Nähe.

Entfernen Sie Ihre Stirn von diesem Blatt und lassen Sie sich unscharf sehen. Oder treten Sie näher bis Ihre Nasenlöcher diese Punkte . . berühren. Verschwimmen Sie?

Schön.

Eine Zeit lang.

„sag danke bitte sag Danke für diese andere Welt“
(Außer Körper erfahren – Neti-Neti)

„Das Innere von meinem Kopf stelle ich mir wie einen botanischen Garten vor. Dort wachsen hochgezüchtete Orchideen, aber auch Unkraut und Wildblumen.“
(Nina Prader im Interview mit Markus Waitschacher)

Ob Kopfpflanzen höher wachsen, wenn sie niemand beobachtet?

Oder braucht ihr Trog, der Kopf, Geselligkeit, um nahrhaften Boden darzustellen?

Ohne Moos nichts los, eine Hand, die gießt, im Idealfall ungebissen. Die andere möglichst nicht vor den Augen. So wächst es sich gut.

Und dennoch, die Dichtheit des Urwalds lässt einen nicht hindurchblicken auf die andere Seite des Dickichts. Opak ist nicht nur der Beton, Lichtundurchlässigkeit als Prinzip, Undurchsichtigkeit als feige Methode. Die erhellend reine Position ist sehr klein und sehr hoch oben.

Zwischen dem Unkraut liegt die Stadt. Unter dem Asphalt die Schienen einer ehemaligen Straßenbahnlinie. Es gibt diese Stelle in der Mitte einer vielbefahrenen Kreuzung, dort sind die Gleise zu sehen. Selbst der Beton wird nachlässig in seiner Standhaftigkeit. Das Bild dreht sich und der Asphalt wird Samt. Jemand hat in die Straße gezoomt. Im Stadtrat erwähnt jemand, es gebe heute zu viel Individualverkehr entlang der alten Linie.

Und „Unter dem Kanaldeckel liegt genauso wenig das Meer, wie hinter deinen Augen.“
(­Verschwimmen – Tortuga)

Wer zweifelt: Aufreißen und nachschauen. Am Asphalt rütteln bis er nachgibt. Einer gibt immer nach und heute, nimm dir vor, bist es nicht du. Die Straßen einrollen als wären sie grauer Teppich zu Ehren der Trostlosigkeit dieser Stadt. Nur, weil wer danach sucht, heißt es nicht, es gebe eine Lösung. Gut versteckt, doch auffindbar, in den Kanälen, irgendwo, oder hinter den Pupillen anderer: Nein.

„Hydro femme wondered whether there was even a wave, wondered whether the invisible, the liquid, the fluid could form a wall that visualises, materialises, cements. Wasn’t this a myth itself?“
(two parts water one part oxygen – Tortuga)

Sicher. Das Wasser ist eine riesige Projektionsfläche. Eine nasse Version des Himmels. Die Schiffe tanken in den Häfen aller Erdteile und Flugzeuge scheinen jetzt wieder öfters zu fliegen – ah, der Westen ist auf Urlaub. Ein Blick hinauf, Getöse, Gedanken ans Meer, und einen anderen Körper, ungleich weit weg.

„I just found out when this women was asking me in the subway:
do you know what sehnsucht means?
that i couldn’t rembember it. I felt in awe, it bothered me, it still does.“
(And Then We Ran Into the Ocean – Veza María Fernández und Christoph Szalay)

Jemand steht vor einer Hauswand, auf der er AMORE liest, und uriniert sie an. Er bemerkt niemanden, gefangen in der Selbstverständlichkeit mit der er loslässt. Sich erleichtert. Wasser lässt, es zulässt, laufen lässt. Im Hintergrund eilt jemand heim, um nicht die Seltsame, die Beobachterin zu sein und hechtet förmlich auf die Toilette. Tropfen im freien Fall, unscharfe Gedanken, und auf gewisse Weise gewonnen hat, wer die Augen schließt, und sich selber mit Amore meint.

„My water eye sweat is about to burst“
(And Then We Ran Into the Ocean – Veza María Fernández und Christoph Szalay)

Im Hin und Her zwischen Großes sehen und Partikel benennen, liegt ein Mittelpunkt: Sich-um-sich-selbst-drehen. Im 8-Stunden-Schlaf nur einmal umdrehen und niemanden erkennen in der Dunkelheit. Es wird früh genug hell werden und die Gesichter werden zurückkommen. Dann wird man sehen.

„Was ist der Punkt
wann wird aus
einem Körper
eine Masse
und was tut ein einzelner Körper dazu“
(Korporal – Joshua Möbe)

Und hier löst sich der Asphalt von der Haut, das Wasser spült den Körper ab, nun stark genug, um die Donau in beide Richtungen schwimmen zu können, um der Südtangente die Ärmel auf zu krempeln: Man dreht sich aus sich selbst heraus, wurschtelt sich aus dem Verhältnis zum Ich, zum Grau, zu großen Wörtern, Zoom- und Denktechniken und der Pflanzenpflege im Kopf.

Von dort aus tieftauchen in der Unschärfe und zum frische Luft holen auftauchen. Die Oberfläche kräuseln. Der menschliche Körper ist nicht für alle Zustände geeignet.

Die vollständigen Tortuga-Hefte sind in ausgewählten Buchhandlungen (siehe www.tortuga-zine.net) sowie via Mail über bestellung@tortuga-zine.net erhältlich.