Der Bedarf an experimentellen Freiräumen für Kunst und Kultur in Wien ist hoch, die Stadtregierung bleibt untätig. Auch Ludwig wird daran wenig ändern
„Für unsere Proben mussten wir bis nach Graz pendeln“, beklagt ein Mitglied einer alternativen Zirkusgruppe beim ersten Vernetzungstreffen selbstorganisierter Räume in Wien, initiiert von der IG Kultur. In Wien habe seine Truppe keinen leistbaren Raum gefunden, der sich für das Erproben ihrer Kunststücke eignet. Dies mag erstmal verwunderlich wirken, gibt es in Wien doch das WUK, die Arena, das Amerlinghaus und einige andere selbstverwaltete Überbleibsel aus den 1970er-Jahren. Wien ist aber mittlerweile gewachsen, die alten Stätten sind etabliert und meist vollkommen ausgebucht. Der Bedarf an Räumen, der hier am offenen Vernetzungstreffen artikuliert wird, kommt von einer neuen Generation an Kunstschaffenden und innovativen Köpfen aus unterschiedlichen Sparten.
Kulturvernetzung von unten
Offensichtlich hat die IG Kultur mit ihrer Einladung zur „Kulturraumvernetzung von unten“ einen Nerv in der städtischen Szene getroffen. Dass allein die Vorstellungsrunde an einem schönen Freitagabend knappe zwei Stunden dauert, zeigt, dass der Bedarf an selbstverwalteten und barrierefreien Begegnungsräumen extrem hoch ist. Es spricht eine Pianistin, die mit ihrer Sängerin nicht länger in kommerziellen Proberäumen arbeiten will: „Es ist gerade der Austausch mit anderen Künstler*innen, der unsere Arbeit so bereichert.“ Sie sehnt sich nach einem Raum, an dem Menschen verschiedenster Hintergründe zusammenkommen und sich abseits von Kommerz austauschen und gegenseitig inspirieren können.
Caro von der Initiative [kat]alab meldet, dass auch sie gerade auf der Suche nach einem Raum sind, in dem ein Labor entstehen soll. Wissenschaft für alle zugänglich machen, unabhängig von großen Unternehmen oder Universitäten, so das deklarierte Ziel des Vereins. Ein kollektives Agieren von Kunst und Wissenschaft sei dafür unerlässlich, betont Caro. Auch ein junges Künstlerduo berichtet von ihren Erfahrungen mit der kommerziellen Agentur NEST, die Leerstand für eine Zwischennutzung vermittelt. Ihr Projekt sei zwar gut gelaufen, für langfristige Arbeit bräuchte es aber gesicherte Räume – kein Prekarium, das jeden Monat kündbar ist.
Die Verschiedenheit der Teilnehmenden macht Mut. Die Gemeinsamkeit liegt in ihrer Überzeugung, dass sich ihr künstlerisches, politisches oder wissenschaftliches Schaffen nicht nur auf individuelle Selbstverwirklichung beschränkt und eine Nische bedient. Die IG Kultur weiß um den gesellschaftlichen Mehrwert solcher lokal agierenden Initiativen und Vereine und verweist darauf, dass sie es sind, die in einer „freien autonomen Kulturszene ein lebendiges Miteinander in der Stadt ermöglichen und garantieren.“
Der politische Wille fehlt
Wien hat im Vergleich zu anderen europäischen Städten sein Kulturbudget nicht drastisch gekürzt. Auch die Entscheidung Michael Ludwigs, Veronica Kaup-Hasler zur neuen Kulturstadträtin zu ernennen, wurde zum größten Teil wohlwollend aufgenommen – vermutlich auch, weil Schlimmeres unter dem „rechten“ Ludwig erwartet wurde. Trotzdem hat Wien in den letzten Jahren hauptsächlich auf Events und Effekte im Kultursegment gesetzt, kritisiert die IG Kultur in einer Aussendung. Großprojekte, die gut vermarktbar sind, stehen im Vordergrund. Im öffentlichen Raum wird auf Verdrängung unliebsamer Gruppen gesetzt, anstatt Freiraum und Begegnungsstätten zu ermöglichen. Das Alkoholverbot am Praterstern und die beachtliche Anzahl an Inseraten, die von Ludwigs Wohnressort vergeben wurden, deuten nicht auf eine grundlegende Neuausrichtung dieser Politik hin.
Im Kulturbereich ist mittlerweile ein Vorschlag nach außen gedrungen: Ludwig will eine Donaubühne bauen lassen. Laut ihm soll auf dieser klassische wie elektronische Musik geboten werden. Den sogenannten Flächenbezirken schaden neue Impulse grundsätzlich nicht – die Dichte des kulturellen Angebots ist dort besonders gering. Ist eine große Bühne an der Donau aber der geeignete Weg, dort nachhaltige Kulturarbeit zu etablieren? Wohl kaum. Eine solche Bühne wird keine neuen Vereine oder Initiativen entstehen lassen. Im Gegenteil, sie wird für die etablierte Kunst als Präsentationsmöglichkeit dienen und ist somit perfekt vermarktbar. Der Nebeneffekt: Mit jedem Konzert auf der Donaubühne wird im selben Atemzug Marketing für Ludwigs Prestigeprojekt gemacht.
Baustelle Außenbezirke
Wiens Bevölkerung wächst noch immer enorm – wer den neuen Stadtteilen, den Städten in der Stadt, zum Beispiel der Seestadt, einen Besuch abstattet, fühlt sich erstmal wie in einem Architekturmodell. Die wenigen Initiativen, die es gibt, wirken wie kürzlich eingepflanzte Setzlinge, deren Überleben noch von der zentral gesteuerten Bewässerungsanlage abhängt. Die Erdgeschoße sind leer, die geplanten Freiräume wirken noch glatt und etwas zu durchdacht. Berichte aus der Seestadt betonen aber das nachbarschaftliche Klima zwischen den ersten Bewohner_innen und deren Bereitschaft, sich aktiv in der Nachbarschaft einzubringen.
Die Stadt ist sich dieser Herausforderung offensichtlich bewusst. Michael Ludwig hat in seinem Antrittsinterview mit dem Standard die Wichtigkeit der „Verbindung von Wohnen, Arbeit, Sport- und Kultureinrichtungen“ in den neuen Bezirken betont.
Wie Ludwig seine geplanten „Akzente“ tatsächlich ausgestaltet, verdeutlicht ein Blick nach Liesing. Dort entsteht eine „Großstadt am Stadtrand“, so die Analyse der Raumplaner Rudolf Scheuvens und René Ziegler. Mehr Menschen, als die ganze Josefstadt Einwohner_innen hat, werden sich in den nächsten zehn Jahren in Liesing ansiedeln. Und die Kultur?
Ehemalige Sargerzeugung als neuer Dorfbrunnen
2013 wurde Erich Sperger von der Wiener Stadtplanung angefragt, ein Entwicklungskonzept für die ehemalige Sargerzeugung in der Breitenfurterstraße in Atzgersdorf zu entwerfen. Die Fabrik wurde stillgelegt, das alte Jugendstilgebäude befindet sich nun im Eigentum des Wohnfonds Wien, dessen Präsident der damalige Wohnbaustadtrat Ludwig war. „Ich wusste von der Stadtplanung, dass hier etliche Wohnungen gebaut werden“, sagt Sperger zu MALMOE. Er deutet in alle Richtungen: „Allein hinter uns bauen sie an die 700, dort hinten weitere 2500 und da noch einmal 4000 Wohnungen – das sind etliche Menschen, die hierherkommen.“ Vermissen würde er aber Orte, an denen man sich trifft. Kulturstätten gäbe es in Liesing nämlich nicht. Für den Bühnenbildner und Kulturentwickler kam das Angebot der Stadt, hier etwas Neues zu entwerfen, genau richtig. Wenig später gründete er den Verein F23.wir.fabriken, der den Betrieb der ehemaligen Sargerzeugung übernommen hat: „Dies kann hier eine Art Dorfbrunnen werden, wo man sich trifft – wie ein kleines Museumsquartier mitten in Liesing.“
Die Kultur bleibt ein Prekarium
F23 will nicht nur einen alltäglichen Begegnungsort für die Liesinger Bevölkerung aus der alten Jugendstilfabrik machen. Das dezidierte Ziel des Vereins ist die Förderung alternativer (Sub-)Kultur, die nicht gewinnorientiert ist. „Hier sollen Experimente Platz haben, vor allem neue Generationen brauchen Räume, die nicht zu glatt sind“, betont Sperger. Das Konzept wurde von allen Seiten freudig aufgenommen. F23 erhielt vom Wohnfonds einen Prekariumsvertrag und begann mit der Arbeit. Spätestens seit den letzten Veranstaltungen im Mai ist die Location in ganz Wien bekannt: Die Wiener Symphoniker spielten ein Konzert in der Fabrik und das Hyperreality-Festival der Wiener Festwochen fand dort statt. Durch solche großen Veranstaltungen würde auch die autonome Kleinkunst profitieren, versichert Sperger: „Die kleinen Fische im Biotop könnten sich so viel Werbung niemals leisten.“
Trotz vieler Erfolge kam es 2017 zur Ausschreibung des Grundstücks. Wichtiges Kriterium in der Ausschreibung war die eigenständige Finanzierung für die Renovierung des denkmalgeschützten Jugendstilbaus, Kostenpunkt ca. 10 Millionen Euro. Ohne Förderung des Bezirks oder der Stadt konnte der Verein F23 diese Summe nicht vorweisen. Deshalb geht das Grundstück jetzt an die Immobiliengruppe Soravia.
Soravia und die (Hoch-)Kultur
Die Soravia-Gruppe ist in Wien kein unbekannter Bauträger und für ihre guten Beziehungen ins Rathaus bekannt. Die Sofiensäle und die Alte Post – nur um zwei ihrer Projekte in Wien zu nennen – sind beides nicht gerade Aushängeschilder für niederschwellige Kulturförderung und Grätzlarbeit. Kultur versteht die Soravia als Hochkultur und (luxuriösen) Wohnbau als Wertanlage. Sperger befindet sich für seinen Verein gerade in Verhandlungen mit der Soravia und sagt nur so viel: „Es ist ein Abenteuer.“ Erfolgreich sieht er sich, wenn Soravia in 15 Jahren sagen wird, dass die ehemalige Sargfabrik keine Sofiensäle waren, sondern eine nachhaltige Investition in etwas Soziales.
Im Fall der ehemaligen Sargfabrik ist klar: die Stadt wollte verkaufen. Für den Bezirk Liesing, der geschlossen hinter dem Verein steht, wäre die Renovierung an sich kein Problem gewesen: „Wer 53 Millionen Euro für einen Kilometer Autobahnanschluss zahlt, für den sind 10 Millionen für so ein Projekt nur ein Tropfen auf dem heißen Stein“, so Sperger. Auch die letzte Nationalratswahl habe da mitgespielt, ist sich Sperger sicher: „Wien wird in eine Situation gezwungen, die der des Hasen vor der Schlange ähnelt. Da ist niemand mehr wahnsinnig tatkräftig mit Visionen.“
Kultur braucht langfristige Förderung
Das Beispiel der Atzgersdorfer Sargfabrik zeigt: Nachhaltige Förderung alternativer (sub-)kultureller Szenen bedarf nicht nur Mut zum Experiment und einen gewissen Vertrauensvorschuss in die geförderten Kunstschaffenden, die lokalen Initiativen und Vereine. Die öffentliche Hand braucht auch Geduld. Sie muss die Förderung für Infrastruktur, Renovierung und Bereitstellung von Freiräumen als nachhaltige Investition in die Kunst von morgen, aber auch in die städtischen Entwicklungsgebiete sehen. Prekariumsverträge, die schlussendlich zur Kooperation mit mächtigen Investoren zwingen, oder die Instrumentalisierung der Kunst für das eigene Marketing sind für das kreative Klima von unten kontraproduktiv. Dies scheint bei Ludwig noch nicht angekommen zu sein.