MALMOE

„Im Warteraum der abgesagten Zukunft“

Von absoluter Gleichzeitigkeit zur ausgedehnten und endlosen Gegenwart

Childish Gambino nimmt es eigentlich vorweg. In seinem viral gegangenen Video zur Single This Is America tritt der Sänger in einer riesigen, leeren Lagerhalle auf, tänzelt zu Beginn im Rhythmus von locker-leichten Gospel-Melodien, zieht plötzlich eine Pistole, holt theatralisch aus: der Schuss fällt und ein gefesselter Mann mit Sack überm Kopf fällt vom Stuhl. In den nächsten drei Minuten und sieben Sekunden geht es Schlag auf Schlag, eine dystopische Vorstellung der Welt wird auf unterschiedlichen, wenn auch gleichzeitig ablaufenden Ebenen gezeichnet, die für viele Menschen bereits eine einzige gelebte, völlig reale Erfahrung darstellt. Die Zukunft – so scheint es zumindest am Ende des Videos, wo Gambino von einer ihm wenig freundlich gestimmten Meute verfolgt wird und geradewegs in die Dunkelheit läuft – ist ungewiss, düster, vielleicht sogar abgesagt und verstellt. Wir sehen keine Hoffnung, kein Licht am Ende des Tunnels. Nur Angst und das beklemmende Gefühl, dass so etwas wie die Überwindung der Gegenwart und eine irgendwann besser werdende Zukunftsvision aufgehoben sind.

Das Video ist in vielerlei Hinsicht interessant, gilt es doch vor allem als gesellschaftskritische Bestandsaufnahme einer real existierenden Situation (nicht nur in den USA). Die hässliche Fratze rassistischer Diskriminierungen gegenüber ethnischen Minderheiten wird in metaphorische Zeichen verpackt und verdichtet, sodass diese zahlreiche Diskussionen zulassen und doch unmissverständlich bleiben. Der Song selbst wechselt zwischen melodiösen Gospel-Einlagen und hartem, aggressiv-unterkühltem Trap. Diese kurz getakteten Stimmungsveränderungen werden im Video mit zwei Schussszenen markiert und machen deutlich, wie schnell die Gesellschaft (ebenfalls nicht nur in den USA) nach Schock, Fassungslosigkeit und Trauer in eine vermeintliche Normalität zurückzukehren imstande ist. Die Unterhaltungsindustrie überschwemmt uns mit niederschwelligen Inhalten, deren einzige Absicht es ist, die Breite der Gesellschaft in eine Art eskapistischen Trance-Zustand zu versetzen, um ihr zu suggerieren, dass sie „hier und jetzt“ im Augenblick lebt. Wir oszillieren dann wie im Video zwischen wiederkehrenden Zuständen der bedingungslosen Hedonie, in denen wir nicht nur nichts anderem folgen können als dem eigenen Genießen, sondern auch nichts mehr anderes verfolgen wollen, und eben jenen Zuständen des alles untergrabenden Schocks, der uns in eine kollektive Gefühlsstarre führt und sich in regelmäßigen Stürmen der Entrüstung entlädt.

„Natürlich gleichzeitig“

Zwischen diesen beiden Polen gibt es scheinbar keine Berührungspunkte mehr. Wir bewegen uns in einer Gleichzeitigkeit, die ohne Ecken und Kanten gleichbleibend dahingleitet und alles um sich herum synchronisiert. Die gesellschaftliche Empörung versiegt mit der medialen Aufmerksamkeit. The show must go on, das System muss auch weiterhin funktionieren. Störfaktoren, wie es diese kurzen Momente der kollektiven Entrüstung sind, werden einer neoliberalen Logik folgend subsumiert, vereinnahmt und problematisieren irgendwann nur noch das, was sie selbst beständig reproduzieren. Das ist die unangefochtene Realität dessen, was der Begriff des kapitalistischen Realismus so eindrücklich einzufangen vermag. Heute sind realistische Forderungen eine Unmöglichkeit innerhalb der bestehenden Strukturen, die Alternativlosigkeit tatsächlich alternativlos. Der Gedanke, dass diese Alternativlosigkeit von Menschen gemacht wurde, verblasst. Sie ist kein Naturgesetz und wird doch als solches gehandelt. Utopievorstellungen sind in diesem System nicht vorgesehen. Sie werden als naiv abgetan, weil die Utopie selbst nicht mehr gedacht werden kann. Brüche und Störungen, die von Formulierungen der Kritik begleitet werden, treten als unsichtbare Verbindungsglieder für das Fortbestehen dieser Logik ein. Ein vermeintliches „Außen“, ein „Außerhalb“ kann nicht mehr gedacht werden.

Wir sind gezwungen, uns permanent selbst zu verkaufen. Jemand mimt den/die Entertainer*in, lenkt bereitwillig von allem anderen ab, zieht für die kurze Spanne der übrig gebliebenen, ohnehin schon in Sekundenbruchteile aufgelöste Aufmerksamkeit auf sich und lächelt in die Kamera – im Video von Gambino verstanden als ein Wink auf jene Oberflächlichkeit der Gesellschaft, die sich in ihrer krankhaften Selbstzentriertheit eher personalisierten Problemen zuwendet, als sich in kollektiver Awareness zu versuchen. Wir leben unmissverständlich in einem Zustand der ständigen Ablenkung, in dem das Unwichtige nicht mehr vom Wichtigen unterschieden werden kann. In gewisser Weise zielt das Video damit aber auch auf das Zeitverständnis, unsere subjektive Wahrnehmung der Zeit, ab. Auf den ersten Blick mag hier anfangs noch eine Chronologie nachgezeichnet werden, die sich auf ein lineares Verständnis der Zeit bezieht. Allerdings sind die Geschehnisse, so unberechenbar und grausam sie auch erscheinen mögen, nur austauschbare Variablen in einem unaustauschbar erscheinenden System. Sie wiederholen sich in unregelmäßigen Abständen, rufen für einen kurzen, medial vermittelten Moment ein Gefühl der Bedrückung, der Ohnmacht oder Wut hervor, ohne dass sich am weiteren Verlauf je etwas zu ändern scheint. Klick folgt auf Klick, folgt auf Klick. Auch deshalb kann das Video als komprimierte Persiflage der neoliberalen Effizienzlogik und ihrer Verhaltensökonomie gelesen werden. Die Aufrufe schnellen nach oben, das Video beherrscht für eine denkbar kurze Dauer die popkulturellen Zirkel, die verschiedenen Netzwerke und vielleicht sogar Teile des Internets. Aber was bleibt außer den Metadaten und der Klickzahl übrig, wenn dieser Moment des Aufruhrs vorbei ist und schon bald von der nächstbesten Story abgelöst wird, um genau denselben Prozess von neuem zu starten?

Innovationen machen, sofern man den selbsternannten Gurus aus dem Silicon Valley Glauben schenkt, unser Leben besser, weil sie uns effizienter machen, indem sie uns ermöglichen, viel mehr Dinge schneller und gleichzeitig zu erledigen. Wir sind berauscht von der Geschwindigkeit („das Leben wird immer schneller“) und davon, dass alles in ständigem Fluss und in Bewegung ist („wir kommen nie zur Ruhe“). Nichts steht mehr still, alles verläuft gleichzeitig und doch passiert nichts, an dem man sich festhalten könnte. Wir treten in rasendem Tempo auf der Stelle. Das Video zu This Is America ist die metaphorische Darstellung dessen, was als „zeitlose Zeit“ (Manuel Castells), als „raum-zeitliche Verdichtung“ (David Harvey), „chronoskopische Zeit“ (Paul Virilio) oder „Netzwerkzeit“ (Robert Hassan), allerdings auch als „absolute Gegenwart“ (Hans-Christian Dany) und „Präsentismus“ (Douglas Rushkoff) bekannt ist. Es ist eine dialektische Spiralbewegung, die sich in ihren eigenen retromanischen Bezügen aufzulösen droht.

„Ausgedehnt zeitlich“

Das erweiternde Gegenstück zur uniformen Gleichzeitigkeit ist ausgedehnte Zeitlichkeit. The Caretaker ist ein vom Briten James Leyland Kirby initiiertes Projekt, das sich in eben diesem Nexus zwischen einer linearen Verfallserscheinung des Bewusstseins und den nostalgischen Erinnerungen an eine ehemals erlebte, aber nur noch fragmentarisch vorhandene Vergangenheit bewegt, die gleichsam geisterhaft die (un)bewusste Gegenwart beeinflusst. Kirby arbeitet dabei an einer akustischen Darstellung der Demenzerkrankung, die sich in den unterschiedlichen Phasen von Everywhere at the end of time dadurch auszeichnet, dass die Vergangenheit nicht vergessen und die Gegenwart nicht mehr erinnert werden kann. Gleich dem in Stufen ablaufenden Krankheitsverlauf und dem zunehmenden Abbau des geistigen Vermögens, kann dieser Prozess nicht aufgehalten werden. Seine Musik ist einzig von der Erinnerung bestimmt. Etwas, das immer weniger ist, bestimmt immer stärker die reale Gegenwart. Gleichzeitig ist man unfähig, neue Erinnerungen zu erzeugen. Je stärker sich die Krankheit ausbreitet, je stärker die Demenz die Bewusstseinsinhalte untergräbt, desto seltener werden auch die einstigen Erinnerungen, die in einem ewig erscheinenden Rauschen aufgehen, sich nur noch selten überlagern, ehe sie verschwinden und nichts mehr bleibt als die Leere, dessen Abstraktion so körperlos erscheint, dass man, einmal die Orientierung verloren, nicht wieder zurückzufinden imstande ist, selbst wenn dieses „Zurück“ nichts anderes bedeutet als die Fähigkeit zur Erinnerung an eine verloschene Vergangenheit. Das subjektive Zeitempfinden löst sich auf. Ein klarer Ablauf der Zeit ist nicht mehr wahrnehmbar. Man befindet sich in einem Schwellenzustand, der die Chronologie der Zeit nicht nur auf den Kopf stellt, sondern auseinanderreißt. Was bleibt, ist ein Loop, dessen Anfang so unbestimmbar ist wie dessen Ende. Geschichte und Vergangenheit werden zunehmend ausgelöscht – alles wird begrifflose, sich stetig anhäufende Gegenwart.

„Endlos gegenwärtig“

„Zeit ist Frist“, schrieb Heiner Müller. Sie ist die Begrenzung und wird in letzter Instanz vom Tod bestimmt. Was aber passiert, wenn auch dieser letzte Zwang behoben ist? In der Cyberpunk-Serie Altered Carbon finden wir uns im 24. Jahrhundert wieder. Die technologische Entwicklung ermöglicht es mittlerweile, das Bewusstsein mitsamt allen Erinnerungen auf einem Chip zu speichern und in andere Körper einzusetzen. Zeit wird nicht mehr durch den Tod bestimmt, die letzte Begrenzung ist gefallen, Menschen sind unsterblich und Zeit ist faktisch irrelevant. Körper sowie deren Teile sind austauschbare Gegenstände und Hüllen, nicht mehr als Mittel zum Zweck, die – abhängig von den jeweiligen finanziellen Ressourcen – in jeder erdenklichen Form individualisiert, verbessert, verschönert und optimiert werden können. Nicht Maschinen vernichteten die Menschheit, die Menschheit machte sich selbst zu Maschinen und vernichtete das Menschliche im Menschen, nur um sich weiter in turbokapitalistischer Wettbewerbslogik zu messen. Denn wenn der Tod erst einmal abgeschafft ist, dann stellt auch Zeit keine Begrenzung mehr dar. Der Verbesserungsdiskurs übersteigt die Endlichkeit, sodass der zeitliche Erwartungshorizont unendlich wird. Immer mehr, immer besser, immer schneller, immer älter und trotzdem endlos jung – eine Maximierung der Reduktion des Sozialen auf ihre alleinigen Verwertungspotentiale. Die Gegenwart hat damit in ihrer erlähmenden Endlosigkeit einen Punkt erreicht, an dem all jene, die dazu befähigt sind, alles daran setzen, um sich über diese Lähmung hinwegzusetzen und ihren Machtstatus zu festigen. Der Spalt zwischen Besitzenden und Besitzlosen entwickelt sich zu einem unüberwindbaren Tal, an dessen dunkler Sohle sich das singuläre Prekariat unter widrigsten Umständen zerfleischt, während sich die Macht auf einige wenige an den – nicht nur metaphorisch – überragenden Rändern konzentriert, von wo aus eine neoreaktionäre, antidemokratisch-akzelerierte Aufklärung geführt wird. Die Besitzenden steigen auf zu einer gottgleichen Entität, an deren Macht nicht (mehr) gezweifelt wird.

Von angepasster Gleichzeitigkeit hin zu ausgedehnter Zeitlichkeit und einer endlosen Gegenwart. Die Wahrnehmung der Zukunft ist verändert. Was aber, wenn die Aussicht auf eine Zukunft fehlt, wenn die einzige Alternative darin besteht, die vorherrschende Alternativlosigkeit zu akzeptieren und damit ein System zu tragen, das jeder Möglichkeit, daran etwas zu verändern, strikt entgegenläuft? Um in einem System zu funktionieren, das darauf ausgerichtet ist, jene Menschen zu bevorzugen (sie zu „Leistungsträgern“ zu machen), die dessen Spielregeln mittragen und durch ihr Mittragen beständig reproduzieren, ist die Möglichkeit des kritischen Denkens, des freien Experimentierens und Ausprobierens nicht nur nicht erwünscht, sondern als blanke Utopie vertan.

Der Autor empfiehlt zum weiterlesen, -hören und -schauen:

Franco „Bifo“ Berardi: After the Future, AK Press, Oakland 2011
Judy Wajcman: Zeit finden im digitalen Zeitalter, Matthes & Seitz, Berlin 2016
Manuel Castells: Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft, Springer, Opladen 2004
Childish Gambino – This Is America (RCA Records 2018)
The Caretaker – Everywhere at the end of time (History Always Favours the Winners 2016)
Altered Carbon, 2018 (Netflix)