MALMOE

Fliegen

Wlada Kolosowa erzählt vom ­Erwachsen­werden zweier junger Frauen in Russland, von Diätwahn, der Wahrheit hinter dem Modelleben und der großen Liebe, die nicht immer erwidert wird

Lena und Oksana, 16 Jahre alt, wachsen in einem tristen, plattenbebauten Vorort von St. Petersburg auf. Vor dem Fenster ziehen die Straßenhunde vorbei und die beiden – Freundinnen von Geburt an – verleihen ihnen in ihrer Fantasie Flügel. Doch Lena bekommt einen Vertrag mit einer Modelagentur: Für drei Monate darf sie nach Shanghai gehen, um, wie sie sich vorstellt, in die Glitzer- und Glamourwelt der Mode einzutauchen. Oksana bleibt zurück und vermisst ihre Freundin und die Nächte mit ihr, die irgendwie nicht real sind, solange die Augen geschlossen bleiben.

Oksana – dauernd auf der Suche nach der passenden Diät – loggt sich in einem Forum ein, in dem Magersüchtige anhand der „Leningrad-Diät“ ihre Kilos verlieren, und manche von ihnen auch ihr Leben. Sie essen nur, was während der Blockade von Leningrad durch die Nationalsozialisten gegessen werden konnte: Ledergürtelsuppe, Grassalat, Pfefferbrätlinge in Industrieöl herausgebacken. Oksana wird Expertin und süchtig, nicht unbedingt nach der Diät, aber nach Likes, virtuellen Freund_innen und deren Bewunderung.

Lena versucht sich in Shanghai durchzuschlagen. Statt Glamour erwarten sie ein Miniappartment, das sie mit zehn anderen jungen Frauen teilt, ein schmieriger Agent, der eigentlich ein Zuhälter ist und widerliche Kunden. Eine Form von Trost findet sie nur in einer Beziehung, vor der ihr eigentlich graust: Mit einem übergriffigen Fotografen, der Jahrzehnte älter ist als sie.

Oksanas Mutter, die auf die Nachrichten mit Präsident Putin wartet wie ein „Teenager auf seinen Boyband-Schwarm“ und Lesben auch dann nicht erkennt, wenn sie in Form ihrer Tochter und deren bester Freundin halbnackt im Bett liegen, merkt wenig von Oksanas Einsamkeit. Der Vater ist ohnehin meistens abwesend. Lenas Eltern lassen sich von der Tochter lieber eine Glamour-Welt vorgaukeln, als die Wahrheit zu erkennen.

Wlada Kolosowas Fliegende Hunde ist ein feministischer Coming-Of-Age-Roman, der immer wieder sehr humorvoll ist zwischen all der Tristesse. Sie gibt das Lebensgefühl einer jungen Generation wieder, die wenig Hoffnung hat, aus dem Leben mehr herauszuholen als ihre Eltern, die sich aber weigert, deshalb aufzugeben. Oksana und Lena möchten beide ein anderes Leben – während Lena versucht, sich aus Krylotowo herauszuarbeiten, möchte Oksana mit Lena glücklich werden und leidet unter deren Abwehr. Doch auch sie öffnet eines Tages die Augen und erkennt, dass das Leben noch etwas anderes bereithält, als das Warten auf einen Tag, der nicht kommen wird.

Wlada Kolosowa: Fliegende Hunde. Ullstein, Berlin 2018. 223 Seiten, 20,60 Euro. Selbstverständlich erhältlich in der Buchhandlung ChickLit, Kleeblattgasse 7, 1010 Wien.