Der umstrittene § 278 StGB wird in einem aktuellen Verfahren gegen migrantische Linke in Österreich eingesetzt
2008 wurde er auf die österreichische Tierschutz- und Tierrechtsbewegung angewandt. 2011 auf Studierende der #unibrennt-Bewegung. Auch auf Fußballfans und Islamist_innen. Ein Anwalt beschreibt ihn so: „Wenn die Staatsanwaltschaft sonst nichts hat, greift sie auf den § 278 zurück …“ Auch in einem aktuellen Verfahren gegen die Anatolische Föderation wird dieser Paragraph herangezogen.
Istanbul, Sommer 2013:
Die massive Polizeigewalt bei den Protesten um den Gezi-Park im Istanbuler Stadtteil Beyoğlu kostet mindestens sechs Demonstrant_innen das Leben. Drei unbeteiligte Personen sterben, nachdem sie dem exzessiv eingesetzten Tränengas ausgesetzt waren. Ein Polizist stirbt, als er bei der Verfolgung von Demonstrant_innen von einer Brücke stürzt. Mehrere Polizist_innen begehen Suizid, manche stellen einen Zusammenhang mit den Protesten her. Etliche tausend Personen werden teils schwer verletzt. Die Proteste beginnen lokal und ökologisch motiviert, weiten sich in Folge aus, bringen verschiedenste oppositionelle Gruppen zusammen und fungieren als Kristallisationspunkt für die breite Bewegung gegen den islamistisch-autoritären Umbau der Türkei durch das Erdoğan-Regime. (1)
Der 14-jährige Berkin Elvan nimmt nicht an den Protesten teil. Er möchte am 16. Juni für seine Familie Brot kaufen. Am Rückweg schießen ihm Polizist_innen eine Tränengaskartusche aus kürzester Distanz auf den Kopf (eine Praxis, die in der Türkei bei Protesten regelmäßig zu Toten und Schwerverletzten unter den Demonstrant_innen führt), er fällt ins Koma.
Istanbul, März 2014:
Berkin, inzwischen 15 Jahre alt, stirbt im Krankenhaus, ohne aus dem Koma erwacht zu sein.
Istanbul, März 2015:
Zwei Mitglieder der DHKP-C nehmen den für die Ermittlungen der Todesumstände Berkins verantwortlichen Staatsanwalt als Geisel. Sie fordern die Veröffentlichung der Details zu dem Fall inklusive der Namen der verantwortlichen Polizist_innen. Die Ermittlungen dazu wurden, wie so oft in der Türkei, verschleppt. (2) Die Polizei entscheidet sich, die Verhandlungen mit den Geiselnehmern abzubrechen und zu stürmen – die beiden DHKP-C Mitglieder bleiben im Kugelhagel tot liegen, der Staatsanwalt erliegt später seinen Verletzungen im Krankenhaus.
Wien, 1. Mai 2015:
Bei den 1.-Mai-Demonstrationen nimmt auch die Anatolische Föderation teil – ein linker Kulturverein, der von türkischen Migrant_innen geprägt ist. Einige Demonstrant_innen tragen einheitliche Kleidung, schwenken rote Fahnen und tragen rote Halstücher. Zahlreiche Transparente werden mitgeführt. Unter anderem wird so Berkin Elvan und der beiden DHKP-C-Mitglieder gedacht, die eine Veröffentlichung der Ermittlungsergebnisse in seinem Fall erzwingen wollten und von der Polizei erschossen wurden.
Wien, 13. Oktober 2015:
Das Vereinslokal des Anatolischen Kulturvereins und Privatwohnungen einiger Mitglieder werden von der Polizei durchsucht. Mitgenommen werden Festplatten, Handys, Spendenboxen, DVDs, Rechnungen, Einzahlungsbelege, CDs, Transparente, Flugblätter. Der Vorwand der Polizeiaktion ist der § 278b (terroristische Vereinigung) und § 278c – § 282a (Aufforderung zu und Gutheißung von terroristischen Straftaten).
Wien, April 2018:
Ende April findet der erste Prozess gegen einen der Demonstranten vom 1. Mai 2015 statt. Er endet mit einem (nicht rechtskräftigen) Schuldspruch wegen der „Gutheißung terroristischer Straftaten“. Für den Angeklagten unverständlich: Er wähnte sich bei der Demonstration in Wien durch das Demonstrationsrecht und das Recht auf freie Meinungsäußerung geschützt und geht in Berufung.
Gegen in Summe 15 Personen gibt es in dieser Causa bereits eine fertige Anklage, wie viele folgen werden, ist noch unklar.
Zeitgleich finden Verfahren statt, um Personen, die der Anatolischen Föderation nahestehen, das Asyl abzuerkennen – dazu braucht es nicht einmal eine Verurteilung, es reicht der Verdacht – zum Beispiel nach § 278b.
Aktuelle Informationen:
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(1) vgl. etwa Ricarda Denzer: Kapı açık – Die Tür ist offen. Die Proteste in der Türkei – ein historischer Moment?, in: MALMOE 64
(2) In einem ähnlichen Fall verurteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Juli 2013 den Einsatz von Tränengas durch die türkischen Polizeibehörden und ebenso den mangelnden Willen zu einer effektiven Aufklärung durch den türkischen Staat: Case of Abdullah Yaşa and others v. Turkey; Application no. 44827/08