Warum die britische Band Depeche Mode für junge Menschen in der DDR wichtig war
War es Zufall? Eine unbedeutende Verkettung von Ereignissen? Schicksal? Jedenfalls gibt es verschiedene Varianten, mit denen sich die zunächst unwichtig erscheinende Tatsache erklären ließe, dass die britische Synth-Pop-Band Depeche Mode für viele junge Menschen in der DDR eine coole Band war. Depeche Mode war für sie sogar mehr als das: Lebensstil, visuelles und auditives Genussobjekt, adoleszente Projektionsfläche, latentes politisches Statement mit manifesten politischen Auswirkungen.
Das Buch Behind The Wall. Depeche Mode-Fankultur in der DDR gibt sich nicht mit einfachen Erklärungen zufrieden. Sascha Lange, promovierter Historiker, und Dennis Burmeister, gelernter Grafik-Designer, stellen Zeitdokumente zusammen, um der Rolle von Depeche Mode in der DDR auf den Grund zu gehen: Fotos, Fanclubhefte, Briefe. Außerdem sprechen Zeitzeugen, die Erzählung wird dadurch noch lebendiger.
Für pop- und politikinteressierte Lesende bietet das Buch aber mehr als Geschichten über die Band und ihre Fans: einen Eindruck der musikalischen Wirklichkeit der 1980er, einen Einblick in heute unvorstellbare kulturelle Diskrepanzen dies- und jenseits des Eisernen Vorhangs, und eine Idee davon, was Pop in der DDR war. Im ersten Kapitel Vor der Pop-Revolution erfährt man so von Reinhard Lakomy, einem Kinderliedermacher, der auch Pionier der elektronischen Musik im Osten war und an der Technischen Universität Ilmenau einen Synthesizer entwickelte. Platz bekommt auch eine neue Generation von Punk- und New Wave-Bands, die ab 1987/88 von der kulturpolitischen Liberalisierung profitierten, aber nicht aus dem Schatten der Westbands heraustreten konnten, sie hießen Sandow, Die Vision oder Die Skeptiker. Man liest von der abwehrenden Rezeption musikalischer Entwicklungen im Westen, in der damaligen Zeitung der DDR-Jugendorgansiation FDJ, Junge Welt, wird Punk zu den „neuartigen Auswüchsen des ,niedergehenden Kapitalismus‘“ gezählt. Einen feindseligen Ton spuckt 1980 auch Stefan Lasch beim Jugendradio DT64: „Punk hat für unsere Musikentwicklung keinerlei Einfluss. (…) Erstens sind die musikalischen Elemente die ursächlichsten der Rock-Musik überhaupt und somit für entwickelte Rock-Musik bedeutungslos. Zweitens ist Punk nur zu verstehen im konkreten gesellschaftlichen Kontext. Drittens widerspricht Punk unseren sozialistischen Normen für Moral und Ethik.“ Im Laufe des Jahrzehnts sollte sich zeigen, wie falsch Lasch damit lag.
Nachdem Depeche Mode 1986 mit dem Album Black Celebration viele Fans im Osten gewinnen konnten, setzten sie sich 1987 mit der Single Strangelove und dem Album Music for the Masses endgültig in den Herzen der DDR-Jugendlichen fest. Im Zeichen des DIY-Prinzips und aus allgemeinem Mangel schneiderten sich die jungen Menschen Kleidung im Stil ihrer Lieblingsband. Arbeitsschutzschuhe aus der DDR-Produktion waren ihre Doc Martens, sie gründeten Fan-Clubs wie den Nju Moud in Karl-Marx-Stadt, tauschten Aufnahmen, an die man schwer rankam, und die Fans im Westen zeigten sich in Form von Depeche-Mode-Paketen solidarisch. Diese Bewegung kulminierte schließlich in einem Depeche-Mode-Konzert am 7. März 1988 in der Ost-Berliner Werner-Seelenbinder-Halle, veranstaltet als Geburtstagskonzert der DDR-Jugendorganisation FDJ. Tickets wurden nur an Ost-Berliner Schulen verteilt. Tausende pilgerten trotzdem zur Halle, ohne irgendeine Aussicht auf Einlass. Manche schafften es trotzdem rein.
Dieses Buch erzählt von Menschen, die das Unerreichbare erreichen wollten und manchmal auch erreichten. Es ist eine Geschichte der transformativen Kraft von Pop, vielleicht ein Buch, das seine LeserInnen dazu bewegt, wieder daran zu glauben. Eine Erzählung, die die Dialektik des Kapitalismus für Kunstproduktion anschaulich greift, die Schranken im Realsozialismus problematisiert, ohne die Möglichkeiten des Kapitalismus überzubewerten. Dieser Blick kommt ohne antikommunistische Tiraden aus und verklärt das damalige Konkurrenzsystem nicht. Der Mainzer Ventil Verlag bietet also wieder mal einen popkulturhistorischen Leckerbissen an. Der politisch-kulturelle Zeitgeist kommt in Behind The Wall so ungezwungen wie gegenstandsgerecht rüber: Ohne Politik für Pop oder Pop für Politik zu opfern.
Sascha Lange, Dennis Burmeister: Behind the Wall. Depeche Mode-Fankultur in der DDR, Ventil Verlag, Mainz 2018.