MALMOE

Perspektiven auf Männlichkeit

Was ich als trans Mann über Männlichkeit gelernt habe

Mein Name ist Linus und ich bin ein trans Mann – vor fast einem Jahr habe ich mich öffentlich geoutet, seit sechs Monaten bekomme ich Testosteron. Meine Stimme wird tiefer, meine Gesichtszüge kantiger, mein Intimbereich verändert sich. Ich merke, dass mich jede noch so kleine Veränderung glücklich macht, weil sie mein äußeres Erscheinungsbild dem näher bringt, wie ich mich selbst sehe und gerne gesehen werden würde.

Andererseits habe ich heute noch keine Vorstellung davon, wie weit diese Veränderungen gehen werden: Werde ich mir die Brüste entfernen lassen? Einen Penisaufbau durchführen? Ich gehe offen damit um, ein Mann zu sein – ein Mann, der noch seine Brüste hat und eine Vagina. Ich merke aber auch, dass genau das irritieren kann.

Kürzlich schrieb ich für den Berliner Tagesspiegel einen Essay darüber, ab wann ein Mann ein Mann ist. Als Reaktion erhielt ich einen Leserbrief, in dem ich gefragt wurde, warum ich nicht einfach eine „Frau“ bleiben könne – mit Kurzhaarschnitt und Herrenkleidung? Wozu bräuchte ich so dringend ein neues Etikett?

Männlichkeit – Etikett, Lifestyle oder Identität?

Es gibt Menschen, die mich fragen, was Männlichkeit für mich überhaupt bedeutet – wenn ich zugleich offen dazu stehe, eine Vagina zu haben. Ich überlege dann im Gegenzug, was Männlichkeit für mein Gegenüber bedeuten muss: Sprechen wir hier über eine Männlichkeit, die ausschließlich an körperliche Merkmale gebunden ist? Machen mich erst eine flache Brust und ein Penis zu einem Mann? Was passiert dann mit Männern, die bei einem Unfall ihren Penis verlieren? Oder aufgrund einer Hormonstörung einen Männerbusen haben? Verlieren diese Männer das Recht, sich Mann zu nennen?

In einer sehr langen E-Mail schrieb mir jemand vor einigen Monaten, dass ich niemals ein Mann sein werde – egal, wie lange ich Testosteron nehme. Weil ich nicht männlich aussehe und durch die Einnahme von Hormonen niemals den männlich bärigen Charme bekäme, den viele Männer besitzen.

Was ich aus all diesen Rückmeldungen schließe, ist, dass das Thema Geschlecht für viele Menschen ein starres, binäres und unglaublich konservatives Thema bleibt – und dass Männlichkeit wahlweise etwas mit dem Geschlechtsteil, den Genen oder einem gewissen äußeren Erscheinungsbild zu tun haben muss. Ich habe das falsche Geschlecht zwischen meinen Beinen, mir fehlt es an den richtigen Genen und für mein äußeres Erscheinungsbild werde ich immer wieder verspottet.

Doch was ist Männlichkeit für mich? Und warum konnte ich keine Frau mit Kurzhaarschnitt und Herrenkleidung bleiben? Interessanterweise wird von vielen um mich herum erwartet, dass ich diese Fragen aus dem Stegreif beantwortet kann – kompetent und für alle nachvollziehbar. Doch wie soll ich das können, wenn vieles nicht einmal für mich selbst nachvollziehbar ist? Wenn vieles einfach eine Mischung aus Wünschen und Bedürfnissen ist? Wünsche und Bedürfnisse, die ich habe, seit ich ein kleines Kind war. Was ich mir schon damals wünschte: einen männlichen Namen. Wenn ich als Linus angesprochen werde, wenn mein Name aufgerufen oder genannt wird, löst das Glücksgefühle aus. Was ich mir wünsche: von anderen als Mann gelesen zu werden. Wenn die Frau in der Bäckerei fragt: „Hat der junge Mann noch 10 Cent?“ oder ich in einer Behörde mit „Herr Giese“ aufgerufen werde, explodieren kleine Funken in meinem Bauch. Es klingt kitschig, aber so fühlt sich das tatsächlich an. Was ich mir auch wünsche: eine tiefe Stimme, kantige Wangenknochen und einen Bart. All dies verbinde ich mit Männlichkeit und all dies brauche ich, um mich wohl zu fühlen und glücklich zu sein.

Was macht Menschen eigentlich männlich und weiblich?

Als ich mich im vergangenen Jahr als trans Mann outete, war ich in den ersten Wochen und Monaten sehr unsicher. Der Wunsch, als Mann akzeptiert zu werden, führte dazu, dass ich vieles überkompensiert habe. Ich habe alle Kleidung weggeworfen, die ich in meinem Leben davor trug. Ich habe mich gefragt, ob ich noch eine andere Farbe als schwarz tragen darf. Es war mir wichtig, so oft wie möglich einen Binder zu tragen, damit meine Brüste abgebunden und unsichtbar sind. Ich habe mich nicht mehr getraut, die Frauenzeitschriften zu kaufen und zu lesen, die ich vorher so gerne gelesen habe. Ich habe mich gefragt, ob ich als Mann ernst genommen werde, wenn ich Bücher für Fotos drapiere und dekoriere, um sie auf Instagram zu stellen. Ich habe mich auch gefragt, wer mich als Mann ernst nimmt, wenn ich zwei Herzen im Logo meines Buchblogs habe.

Dieses eigene Erleben deckt sich mit Erlebnissen aus meiner Arbeit als Buchhändler: Während es bei Frauen schon längst akzeptiert ist, dass sie kurze Haare haben und Hosen tragen, ist es für Männer deutlich schwerer, mit gesellschaftlichen Normen und Erwartungen zu brechen. Oft kommen Mütter in den Buchladen und sagen: „Eigentlich mag Oskar am liebsten Bibi & Tina, aber er soll auch mal was für Jungs hören.“ Eine Mutter fragte mich sogar mal, ob sie sich darüber Sorgen machen muss, dass ihr Sohn mit so vielen Mädchen befreundet ist. Ich werde auch niemals den Mann vergessen, der bei mir die Zeitschrift flow kaufte und ganz verschämt sagte: „Ich weiß, dass ich das falsche Geschlecht für diese Zeitung habe, sie gefällt mir aber trotzdem.“

Trans Männer laufen Gefahr zu überkompensieren

Wenn ich mir die Community der trans Männer anschaue, fällt mir interessanterweise auf, dass viele der bekanntesten trans Männer ein sehr konventionelles Bild von Männlichkeit transportieren – weiß, durchtrainiert, muskulös und häufig mit schönen Frauen liiert. Sie sind so etwas wie das scheinbare Idealbild. Viele Artikel über trans Männer drehen sich darum, dass niemand ihnen hätte ansehen können, trans Männer zu sein, oder um die Frage, welche Frau zu diesen trans Männern in ihrem Bett wohl nein sagen könnte. Ich glaube, dass es schädlich ist, eine Vorstellung von scheinbarer Männlichkeit auf eine ganze Gruppe zu übertragen, deren einzelne Mitglieder deutlich diverser sind.

Kürzlich trendete auf Twitter der Hashtag #menaretrash – dabei kam die Frage auf, ob men auch trans Männer miteinschließt. Die trans Männer Jake Graf, Aydian Dowling oder Buck Angel gehören für mich zu den vorhin erwähnten „Sinnbildern“ von Männlichkeit. Männlichkeit per se ist nichts Schlechtes, doch es gibt eine feine Linie zwischen Männlichkeit und toxischer Männlichkeit. Dadurch, dass trans Männer sehr lange Zeit darum kämpfen müssen, als Männer gesehen zu werden – von ihrer Familie, ihren Freunden und der Gesellschaft – laufen sie Gefahr, diese feine Linie zu übertreten, weil sie den Wunsch, männlich zu erscheinen, überkompensieren.

Ich erinnere mich noch gut daran, dass ich auf Twitter ein Foto mit einer befreundeten Bloggerin teilte und ein trans Mann darunter kommentierte: „Die ist ja scharf, mach dir die Alte klar.“ Mich erschreckte der Kommentar damals sehr, weil dort jemand verächtlich über eine Frau spricht und sie darauf reduziert, ein sexuelles Objekt zu sein. Mich erschreckt besonders, dass der trans Mann, der kommentierte, selbst viele Jahre als Frau gelesen wurde und sich vielleicht häufig so einen oder ähnliche Sätze anhören musste.

Geschlechtergrenzen auflösen statt zu verstärken

All diese Kategorien und Rollen – Frauen lesen die flow und haben Herzen in ihren Logos, während Männer ihren muskulösen Körper trainieren – sind gesellschaftliche Zuschreibungen, die uns von klein auf vorgelebt werden. Natürlich möchte ich als Mann gelesen und akzeptiert werden, ich bin aber nicht dazu bereit, antiquierte Vorstellungen von Männlichkeit zu reproduzieren, um mir dieses Privileg zu erarbeiten. Bei mir hat es ein paar Monate gedauert, bevor es mir gelang, mich von den Normen und Erwartungen zu befreien und von dem Druck, als trans Mann nur noch eine männliche Rolle zu erfüllen. Ich muss nicht mehr ständig einen Binder tragen, meine Brüste gehören noch zu mir. Wenn mir ein Kleidungsstück gefällt, das in der Frauenabteilung hängt, darf ich mir das trotzdem kaufen. Wenn ich Lust darauf habe, mir die Fingernägel zu lackieren, darf ich das tun. Wenn ich Freude daran habe, sogenannte Frauenzeitschriften zu lesen, darf ich auch das tun.

Statt mir zu überlegen, was mich besonders männlich machen könnte, ist es viel eher mein Wunsch, endlich diese Geschlechtergrenzen aufzulösen. Damit Oskar weiter Bibi & Tina hören kann und ich weiter das Missy Magazine kaufen, ohne darüber nachzudenken, ob das was für uns Jungs ist.