Der Kampf um eine linke Geschichtsschreibung, die insbesondere die Vergangenheit der eigenen Bewegungen beleuchtet, ist ein wichtiges politisches Instrument. Peter Haumer leistet hierzu einen bedeutenden Beitrag mit seinen Biografien von Revolutionär_innen und einem Buch über die revolutionäre Bewegung FRSI (Föderation Revolutionärer Sozialisten Internationale).
Peter Haumer ist in den letzten Jahren Forschungswege gegangen, die von akademischen Historiker_innen selten beschritten werden. Es geht ihm um die Geschichte(n) politischer Bewegungen links der Sozialdemokratie, ihre Akteur_innen, die theoretischen Ansätze, die Aktionen und Kämpfe und ihre Zeitungen. Im Folgenden soll ein kurzer Einblick in seine Entdeckungen gegeben und zugleich ein Loblied auf die freie und engagierte Geschichtsforschung angestimmt werden.
Gegen das Vergessen
„Ohne tradiertes Wissen beginnt bereits an den Grenzen der eigenen Lebensgeschichte geschichtliches Vergessen.“ So schreibt das Team von Gegen das Vergessen (GdV) im Vorwort zum Reprint der in den 1980er Jahren in der Autonomen Zeitschrift Radikal veröffentlichten Geschichtsreihe. Es verwundert fast, dass sich die radikale Linke heute so wenig mit „ihrem“ Vergessen beschäftigt. Sollte sie nicht auch in autonomen Forschungsverbänden die eigene Geschichte in Erinnerung rufen bzw. schreiben?
Es gilt noch immer, das Feld der Geschichtsschreibung als diskursives Konfliktfeld zu betrachten und dieses von den Rändern und minoritären Perspektiven aus aufzurollen und dadurch ein hegemoniales Geschichtsbild brüchig werden zu lassen. Nebenbei kann es für Linksradikale Balsam sein zu wissen, dass es in den tiefen Winkeln der Vergangenheit Menschen gab, die ebenfalls für eine freie Gesellschaft kämpften. Sie hatte Namen wie Leo Rothziegel, Berta Pölz oder Julius Dickmann. Doch welche Biografien stecken dahinter? Was waren ihre Antworten auf jene Fragen, die sich ihnen angesichts der gesellschaftlichen Verhältnisse stellten? Und können diese inspirierend für unsere gegenwärtigen Antworten sein?
Die Linksradikalen 1918/19
Im Jänner 1918 standen in Ostösterreich an die 750.000 Arbeiter_innen im Streik. Wegen der Friedensverhandlungen in Brest und der bevorstehenden Kürzung der Mehlration begannen sie, ohne Zustimmung der Sozialdemokratie, die damals einen massiven Einfluss auf die Arbeiter_innenschaft hatte, zu streiken. Sie bildeten Rätestrukturen, ganz nach dem Vorbild der russischen Genoss_innen, und forderten einen sofortigen Frieden mit Sowjetrussland. Die Sozialdemokratie intervenierte prompt, lenkte mit brachialem Geschick den Streik in geordnete Bahnen und führte ihn gekonnt in eine Niederlage. „Statt Frieden, Brot und Freiheit hatten die ArbeiterInnen hinhaltende Versprechungen erkämpft, dass das Kriegsleistungs- und Ernährungsgesetz reformiert und das Gemeindewahlrecht demokratisiert würde.“ (Haumer 2018, S. 48) Die radikalen Kräfte hatten jedoch ihre ersten Gehversuche unternommen, auch wenn für viele diese zunächst ins Gefängnis führten. Einer der eifrigsten war der Revolutionär Leo Rothziegel. Ihm widmete Peter Haumer eine Broschüre, die beim Institut für Anarchismusforschung erschien (online unter: anarchismusforschung.org zu finden). Bereits vor dem 1. Weltkrieg war der aus einer jüdischen Familie stammende Buchdrucker eine bekannte Figur in der anarchistischen und sozialistischen Welt. Als begabter Redner und Agitator war er einer der Hauptakteure im Jännerstreik und wurde deswegen verhaftet. Mit Kriegsende im Herbst 1918 begann Rothziegel – wie die meisten der Revolutionär_innen war er wieder auf freiem Fuß – Flugblätter zu verfassen:
„… Laßt Euch nicht durch das Wort Republik verblenden! Erklärt, daß alle Menschen gleich sind, nicht dem einen die Fabrik gehört, der andere aber drinnen um kargen Lohn schuften muß. Nein! Die Fabriken, Häuser, Grund und Boden gehören allen Menschen, nicht den wenigen, die sich alles mit Gewalt aneignen. Arbeiter, wählt aus Eurer Mitte Arbeitskameraden, einen Arbeiterrat!“ (Haumer 2017, S. 51)
Mit diesen Worten war die Perspektive der Linksradikalen charakterisiert, die im November die Föderation Revolutionärer Sozialisten Internationale (FRSI) gründeten. Keine Partei, sondern eine Föderation, in der radikale Sozialdemokrat_innen, Anarchosyndikalist_innen, Kommunist_innen und jüdische Sozialist_innen zusammenkamen, um für eine Rätedemokratie zu kämpfen und nicht für den Parlamentarismus. Die Selbstbestimmung und Selbstverwaltung der Betriebe durch die Arbeiter_innen war ihr Ziel.
Donauföderation der Sowjets
Als theoretischer Kopf der FRSI agierte Julius Dickmann. Über ihn verfasste Haumer eine politische Biografie, in der auch einige seiner Schriften wieder veröffentlicht wurden, wie u. a. jene, in der Dickmann gegen die Forderung der Sozialdemokratie nach dem Anschluss Deutsch-Österreichs an Deutschland polemisierte und eine Donauföderation der Sowjets propagierte. Veröffentlicht hat er seine Artikel in unterschiedlichen linken Zeitungen, wie im Freien Arbeiter, der als Organ der FRSI von den beiden Revolutionärinnen Hilde Wertheim und Berta Pölz herausgegeben wurde. Letztere war eine Arbeiterin aus Wien, die ebenfalls im Jännerstreik aktiv war, immer wieder als Rednerin bei Versammlungen auftrat, Arbeiterrätin der Arbeitslosen war und bei der kurzlebigen Räterepublik in Bad Vöslau agitierte.
Auch die FRSI war nur von kurzer Dauer. Viele der Aktivist_innen traten im Frühjahr 1919 der im November 1918 gegründeten Kommunistischen Partei bei. Leo Rothziegel ging im April nach Ungarn und starb bei der Verteidigung der dortigen Räterepublik. Julius Dickmann „versucht seinen eigenen Weg zu gehen, ist dadurch auch abtrünnig und politisch heimatlos geworden.“ (Haumer 2015, S.12) Er verschwand später in der NS-Vernichtungsmaschinerie.
Unter dem Staub des Verdrängten und Vergessenen liegt ein Schatz unzähliger Erfahrungen, der uns Organisierungs- und Aktionsformen lernen lässt, schreibt das bereits erwähnte GdV-Team. Peter Haumer hat in seinen letzten drei Publikationen einige dieser Schätze für uns gehoben
anarchismusforschung.org
Literatur:
Peter Haumer, Geschichte der F.R.S.I. Die Föderation Revolutionärer Sozialisten „Internationale“ und die österreichische Revolution 1918/19, Mandelbaum, Wien, 2018
Peter Haumer, Julius Dickmann: „… daß die Masse sich selbst begreifen lernt“. Politische Biografie und ausgewählte Schriften, Mandelbaum, Wien, 2015
Peter Haumer: „Bitte schicken Sie uns einige Maschinengewehre und Zigaretten“. Leo Rothziegel (5.12.1892–22.4.1919), Jüdischer Proletarier und Revolutionär. Institut für Anarchismusforschung, Wien, 2017 GdV-Team: Gegen das Vergessen. Sozialrevolutionärer Widerstand und Verweigerung in Deutschland, Unrast Verlag