MALMOE

Zehn Jahre „Schwamm drüber!“

Österreich gilt als progressiv in der Organisation der Pflege alter Menschen. Tatsächlich ist ein patriarchales und neokoloniales Arbeitsregime verrechtlicht worden.

Noch ist nichts Genaueres darüber bekannt, wie Türkis-Blau den Angriff auf den Sozialstaat im Detail gestalten wird. Doch lassen die bisherigen Verlautbarungen sowie die Erfahrungen aus den schwarz-blau regierten Ländern massive Einschnitte vermuten. Diese Kürzungen betreffen stets insbesondere Frauen*, schließlich üben diese noch immer den Großteil sogenannter Care-Arbeiten aus: in an staatliche Gelder gebundenen Arbeitsverhältnissen oder über staatliche Förderungen im Privathaushalt. Hierunter fällt auch die Sorgearbeit für Personen, die aufgrund ihres Alters Pflege und Unterstützung im Haushalt erhalten.

Das österreichische Pflegesystem

Für diese besteht in Österreich, wie in vielen europäischen Staaten, seit Anfang der 1990er Jahren die sogenannte Pflegeversicherung. Hierzulande ist sie über Steuergelder der Gemeinden finanziert. Fünf Prozent der österreichischen Bevölkerung beziehen aktuell Leistungen in Höhe von insgesamt rund 2,7 Milliarden Euro. Dennoch schließt die Regelung in der Praxis zahlreiche Pflegebedürftige aus. Erst mit einem Pflegeaufwand ab 65 Stunden monatlich stehen den Versicherten die Leistungen zu, nur österreichische Staatsbürger*innen haben Anspruch auf sie. Zudem hat das Pflegegeld seit seiner Einführung gut ein Viertel seiner Kaufkraft eingebüßt, wurde also faktisch gekürzt. Bereits an diesem Punkt zeigt sich, dass die österreichische Pflegeversicherung keinesfalls umfassend, sondern selektiv gestaltet ist. Auch wird deutlich, dass dieses System auf nicht entlohnter Pflegearbeit fußt. Diese leisten traditionell Frauen*.

Tatsächlich steht das bestehende österreichische Pflegesystem paradigmatisch für die gegenwärtige, die neokoloniale Ordnung und traditionelle Geschlechternormen verstärkende Phase des Kapitalismus. Entwickelten sich in den 1970ern mit dem fordistischen Klassenkompromiss im Zentrum Europas verhältnismäßig umfangreiche Sozialstaaten, findet aktuell deren Rückbau statt. In diesem fasst die österreichische Pflegeversicherung die Empfangenden als Kund*innen, die das für sie passende Pflegeverhältnis auf einem Markt einkaufen. Entsprechend müssen sie Pflegeheim, ambulante Pflegedienste oder eigenständig arrangierte häusliche Pflege selbst organisieren. Bei dieser Entscheidung steht jedoch meist nicht die Frage nach der bestmöglichen Pflege im Mittelpunkt. Zum einen genügt die gesetzliche Pflegeversicherung nur zu geringen Anteilen, um eine gute Pflege im Heim zu finanzieren. Zum anderen wird Angehörigen im öffentlichen Diskurs vermittelt, Pflegebedürftige „ins Heim zu stecken“ sei unmoralisch. In der Folge entscheiden sich nur ein Sechstel der Betroffenen für einen Heimplatz.

In den verbleibenden 85 Prozent der Fälle übernehmen Angehörige und/oder bezahlte sogenannte „Heimhelfer*innen“ die häuslichen Sorgetätigkeiten. Dabei unterschreiten die sieben Pflegestufen das Einkommensniveau in Österreich bei Weitem. Liegt der durchschnittliche Stundenlohn in Österreich bei knapp 13 Euro, so sehen die aktuellen Pflegestufen bei einem Aufwand von bis zu 180 Stunden monatlich 677,60 Euro Pflegegeld vor. Gedeckelt wird die staatliche Unterstützung bei einem Höchstsatz von 1.688,90 Euro. Für ihn ist Voraussetzung, dass der*die Pflegeempfangende sich nicht mehr zielgerichtet bewegen kann. Der Satz muss dann in der Regel ausreichen, um eine Rund-um-die-Uhr-Versorgung zu gewährleisten. Mit der Zuweisung der Pflege in den häuslichen Raum gehen drastische Einschnitte in die Einkommen der Pflegenden gegenüber der stationären Pflege einher, da letztere dem Schutz bindender Tarifverträge unterliegt. Die Auslagerung der Pflege in den Haushalt geschieht insofern vor dem Hintergrund neoliberaler Standortpolitik. Sie verfolgt das Ziel, Lohnnebenkosten zu drücken.

Zunahme irregulärer Beschäftigungsverhältnisse

Gleichzeitig nehmen österreichische Frauen* verstärkt am Erwerbsleben teil – sowohl als Ergebnis feministischer Emanzipationsbewegungen als auch durch das Ende des Ein-Ernährer-Haushalts angesichts des wachsenden Niedriglohnsektors dazu gezwungen. Immer seltener übernehmen sie daher die Pflege von Angehörigen, wenngleich deutlich öfter als Männer*. Mitsamt der unzureichenden Finanzierung führt dies in Österreich zu einer Vielzahl irregulärer Beschäftigungsverhältnisse. Rund 30.000 Personen wurden im Jahr 2006 in derartigen Verhältnissen gepflegt. Frauen* aus Tschechien, der Slowakei und Ungarn stellen dabei das Gros der Pflegenden. Seit Einführung des Pflegegelds ist weithin bekannt, dass die häuslichen Pflegeverhältnisse in der Mehrheit gegen geltendes Arbeitsrecht verstoßen. Zu einem Thema werden sie jedoch erst dreizehn Jahre nach Einführung der Pflegeversicherung. So kommen 2006 wenige Wochen vor der Nationalratswahl Berichte auf, auch die Schwiegermutter des Kanzlerkandidaten Schüssel werde innerhalb eines illegalen Arbeitsverhältnisses gepflegt.

Der Skandal verhindert nicht die Wiederwahl Schüssels. Auch bleibt der Ruf danach, die ausreichende Finanzierung der häuslichen Pflege sicherzustellen, weitgehend aus. Wenn doch, so wird er zurückgewiesen. „Man kann nicht bei jedem Problem sofort immer nach dem Staat rufen“, erklärt Schüssel. Die Familie, sprich dort die Frauen*, sollen die Pflege leisten. Gleichzeitig solle die „Kriminalisierung der Betroffenen“, unterbleiben. Darin sind sich alle Parteien einig. Als „Betroffene“ gelten dabei alleinig die Pflegebeziehenden, Österreicher*innen also.

Das „Schwamm-drüber-Gesetz“

Weder werden die Arbeitsverhältnisse als Problem identifiziert, noch finden die Interessen der Pflegenden Erwähnung. Es ist ihr Schutz als Arbeitnehmer*innen, der zum Stein des Anstoßes wird. Nicht die Unterfinanzierung der Pflege kommt zur Sprache, stattdessen wird ein Arrangement gesucht, wie Pflege in das schmale, für sie vorgesehene Budget einzupassen wäre, ohne dass Österreicher*innen unnötigerweise in Konflikt mit dem Gesetz geraten. Entsprechend ist die erste Reaktion auch eine Amnestie für die Arbeitgeber*innen. Diese greift sowohl rückwirkend, indem sie Zivil- und Strafverfahren für die vergangenen fünf Jahren abwehrt, als auch für die folgenden sechs, später dreizehn Monate. Bekannt wird sie als „Schwamm-drüber-Gesetz“.

Auf sie folgt eine Regelung, die sonst geltendes Arbeitsrecht grundlegend unterläuft: Eine 128- Stunden-Woche wird legalisiert. Der Anspruch auf Ruhezeiten wird auf drei Stunden täglich reduziert. Dabei stehen den Pfleger*innen lediglich zweimal eine halbe Stunde als ununterbrochene Pause zu. Weiter wird gesetzlich fixiert, alle Zeit im Haushalt der*s Pflegebedürftigen, die über die Höchstarbeitszeit hinausgeht, sei schlicht nicht als Arbeitszeit anzusehen. Die Überschreitung dieser Marke ist in der Praxis jedoch notwendig, soll in einem zwei Wochen Arbeitszyklus eine dauerhafte Betreuung sichergestellt werden, die in Rücksicht auf den*die Gepflegte ohne häufige Wechsel der Pflegenden auskommt.

Allerdings greifen diese Regeln nur, sofern die Pflegenden als Arbeitnehmer*innen bei der*dem Pflegeempfänger*in angestellt sind. Ende 2008, also im Jahr zwei nach der Legalisierung des Pflegeverhältnisses, trifft dies nur auf 207 Angestellte im Vergleich zu rund 12.000 selbstständigen Pfleger*innen zu. Ein Jahr später arbeiten bereits 22.000 „Haushaltshelfer*innen“ selbstständig. Inwiefern rechtlich von Selbstständigkeit gesprochen werden kann, ist jedoch fraglich, schließlich arbeiten die „Selbstständigen“ lediglich für eine*n Auftraggeber*in.

Auch die Ausbildung der Pflegenden wird knapp angelegt. Ein Schnellkurs à 168 Stunden oder sechs Monate Berufserfahrung werden als ausreichend deklariert – für die Arbeit, welche etwa oft den Kontakt mit Personen mit Demenz und somit anspruchsvolle emotionale Arbeit beinhaltet. Bereits 2008 werden die Aufgabenfelder der „Haushaltshelfer*innen“ ausgeweitet, ohne wesentliche Verbesserung von Bezahlung und Ausbildung.

Heute gehen Schätzungen davon aus, dass rund die Hälfte aller Pflegeverhältnisse auch zehn Jahre nach der legalisierten Unterschreitung des Arbeitsrechts irregulär sind. Trotz dieser deckt der Pflegesatz noch immer nicht die Kosten für die häusliche 24-Stunden-Pflege, welche etwa 2000 Euro beträgt. Folglich ist davon auszugehen, dass über 20.000 in aller Regel weibliche Pfleger*innen noch weit unter dieser Summe teils 24 Stunden am Tag, 14 Tage oder sogar länger am Stück ihrer Arbeit nachgehen. Dies geschieht nicht nur unversichert, sondern auch in einem Umfeld, das aufgrund des geteilten Wohnraums Privatsphäre schwerlich möglich macht.

Care-Arbeit und Protestbewegungen

Haben zehn Jahre Rot-Schwarz zu einer Verfestigung der beschriebenen Arbeitsverhältnisse geführt, so ist unter Türkis-Blau kaum mit ihrer Verbesserung zu rechnen. Umso mehr gilt es, den Kampf gegen die Regierung Kurz-Strache nicht auf Antifaschismus oder den Kampf um soziale Rechte von Österreicher*innen zu beschränken. Vielmehr muss der Protest die Verschränkung eines erstarkenden Patriarchats und neokolonialer, als Teil kapitalistischer Ausbeutung einbeziehen. Die lautstarken Proteste illegalisierter Pfleger*innen in der Schweiz und das Care Revolution Netzwerk in Deutschland zeigen Perspektiven für eine solche Bewegung auf. Für die dortigen Initiativen stellt die geteilte Erfahrung der unterfinanzierten Pflege als Ergebnis einer kapitalistischen Gesellschaftsordnung den gemeinsamen Ausgangspunkt dar: in Gestalt der mangelnden Qualität der Pflege einerseits, sowie den Arbeitsverhältnissen in ihr andererseits. Ein solcher Kampf ginge zumal über Erzählungen hinaus, welche die Interessen einer vermeintlich weißen und männlichen Arbeiter*innenschicht denjenigen von Migrant*innen und Frauen* gegenüberstellen. Er stünde damit jenen Narrativen entgegen, die für das aktuelle Erstarken des Rechtspopulismus und Neofaschismus von so großer Bedeutung sind.