Wir haben uns daran gewöhnt, die Welt wie ÖkonomInnen zu interpretieren. Das stellt psychotherapeutische Maßnahmen vor kaum lösbare Aufgaben.
Sowohl Ökonomie als auch Psychologie bedürfen einer Interpretation der Welt. Dabei müssen sie sich jenem „Vermittlungsproblem“ stellen, an dem sich die großen DenkerInnen der Geistesgeschichte abgearbeitet haben, ohne es je befriedigend lösen zu können. Das Problem in einem Satz: Wenn ein Ding mit Sinnen erfasst wird, also gehört, gesehen, gefühlt oder geschmeckt wird, bleibt unklar, was es eigentlich ist und in welchem Zusammenhang es mit dem geistigen Abbild steht, das ein menschliches Wesen sich davon macht, und somit ist auch ungewiss, ob und wie menschliche Wesen sich untereinander darüber verständigen können. Die Ökonomie bietet nun eine ungeheuer praktikable und pragmatische Lösung, indem sie sagt, versuchen wir gar nicht erst zu ergründen, was ein Ding ist, sondern bewerten wir es! Und tatsächlich kann dem gesamten Weltbestand, jeder Blume, jedem Tier, auch jedem Gedanken oder jedem Ton ein Wert zugeordnet werden. Die Operation der Weltzerlegung beginnt mit Messwerten (Temperatur, Länge etc.) und endet ganz „natürlich“ in einem daraus ermittelten Preis. Die Vermittlung zwischen Menschen ist jetzt zwar abstrakt, aber auch unproblematisch und reibungslos. Einzelne Werte können miteinander verglichen werden, Austausch hat eine nachvollziehbare Basis und ein reger Handel kann sich entspinnen. Jede/r tiefsinnige ÖkonomIn weiß natürlich, wie oberflächlich dies ist, da hinter der Bewertung das Ding verschwindet, darf aber darauf verweisen, wie gut das alles funktioniert. Tatsächlich kann heute der überwiegende Teil menschlichen Handelns und Arbeitens verstanden werden als eine Maßnahme, die Welt in verschiedene Werte zu übersetzen. Auf einer notwendig unendlichen Werteskala wird der jeweilige Wert eines Dinges eingetragen und die ganze Welt ist erfasst. Selbstverständlich entsteht ein Streit darüber, ob etwas mehr oder weniger wert ist, aber das ursprüngliche Vermittlungsproblem scheint gelöst.
An dieser Stelle kann mancher/m LeserIn ganz mulmig zu Mute werden und eine enorme Lust am Widerspruch entstehen. Nein, das ist nicht die ganze Welt, es gibt noch etwas ganz anderes, das sich nicht in Werteskalen fassen lässt. Stimmt. Ein altertümliches Wort dafür wäre „Seele“. Wer zuhause einen Revolver rumliegen hat, weiß genau, was eine Seele ist. Seele wird jener Hohlraum genannt, der entstand, als der Lauf durchbohrt wurde. Das technisch gesehen Entscheidende an jedem Schießgewehr ist, dass es in seinem Inneren leer ist, damit die Projektile abgefeuert werden können. Diese Mordwerkzeuge brauchen folglich eine „Seele“. Dieses geschmacklose Bild aus der Technik ist präzise, denn tatsächlich ist die Seele etwas, das zwar ganz offensichtlich nicht da ist, aber zugleich entscheidend dafür ist, dass ein Wesen das ist, was es ist. Bewerten aber lässt sich etwas, das nicht da ist, nicht. Zumindest nicht in jenem pragmatischen Sinn der Ökonomie. Und an dieser Stelle hat die Psychologie ihren nur bedingt rühmlichen Auftritt.
Halt dich an deiner Seele fest
In Momenten großer Trauer und Verzagtheit gibt es etwas, an dem wir Menschen uns gerne festhalten. Ebenso erahnen wir in Situationen überschäumenden Glücks eine Präsenz. Diese stellen wir uns als nicht stofflich vor. Die Seele ist nicht da wie ein Knie, sie kann tausend Bilder haben, die sekündlich wechseln, oder keines, dennoch empfinden wir ihre Gegenwart. Oder bilden sie uns ein – je nachdem, wie man es zu sehen gedenkt. In ihren schönsten Höhepunkten schrieben Literatur, Religion oder Philosophie diesem abwesend anwesenden Nicht-Ding Seele die Lösung des Vermittlungsproblems zu. Etwa so: Ich liege im Sonnenschein auf weichem Gras und die Käferlein summen um mich herum. Mensch, Gras und Insekt wissen nichts voneinander, sind aber in Kontakt, weil ihre Seelen sich berühren. Eine schöne Erklärung, die all die letztlich nicht ganz lösbaren Probleme, wie Lichtwellen zu Sinneseindrücken und Vorstellungen werden können, insbesondere in der winzigen Kapsel eines Käfers, einfach weglässt. Zugleich ist auch das ganze Unschöne einer oberflächlich usurpierenden ökonomischen Bewertung hinfällig und kann zurückgewiesen werden. Als PsychologInnen noch keine WissenschaftlerInnen waren, machten sie Versuche, Erfahrungen und Gefühle dieser Art systematisch zu erfassen und zu beschreiben und erhoben das Seelenleben zu einer Art literarischem Gegenstand. Da die Beschreibung von etwas, das es im Grunde nicht gibt, nur sehr widersprüchliche und unbefriedigende Ergebnisse zeitigen konnte, ließen die PsychologInnen es irgendwann sein und wandten sich lieber Greifbarem zu. Dingen wie dem „psychischen Apparat“ zum Beispiel.
Ein kluger Schachzug, denn erst ab diesem Punkt konnte eine erfolgreiche Wissenschaft entstehen, die nicht versank in numinosen Spekulationen. Allerdings hat dies einen Preis, der angesichts der heutigen Krise besonders schmerzlich zu Tage tritt. Er mag sich an folgendem zeigen: Auch die wohlwollendsten, klügsten und fest an humanistischen Überzeugungen haftenden PsychotherapeutInnen fragen explizit oder implizit ihre KlientInnen nach deren „Werten“. Damit meinen sie natürlich keineswegs monetäre, sondern wollen damit Grundeinstellungen, Maximen und dergleichen ermitteln. All diese geistigen Dinge, die sich aus dem brennenden Haus einer schlechten Gesellschaft noch heraustragen lassen und aus denen Kraft geschöpft werden könnte. Zwar machen sich die meisten PsychologInnen darüber lustig, wenn gewisse KollegInnen versuchen „Liebe zu evaluieren“, aber abgesehen von der Zurückweisung lächerlich positivistischer Übersteigerung ist ein echtes Alternativprogramm weitgehend unklar.
Auf was du letztlich setzt
Diese Alternativlosigkeit ist Ergebnis eines irreversiblen geschichtlichen Prozesses. Heute sind wir nicht mehr gewohnt, ins Nichts einer „nackten Erscheinung“ zu blicken, die mit viel Glück und Gnade im Laufe eines Menschenlebens zwei- oder dreimal aufzutauchen pflegte, sondern fordern Teilhabe an der Welt als Funktionierende. Funktionieren heißt die Vermittlung zwischen Menschen untereinander oder zwischen Menschen und Dingen als eine Relation verschiedener Werte zu begreifen. Wäre dem entgegen die geistesgeschichtlich uralte Grundannahme aufrecht, dass diese Welt nur erfahren werden kann, weil es eine beseelte ist, weil also in ihr Seelen (an dieser Stelle kann übrigens gerne einer jener fantasievollen Namen einfügt werden: Idee, Monade, Atman etc.) einander berühren, diese in eine Harmonie zueinander finden, dann bräuchten wir uns ja um „Werte“ nicht zu scheren. Das Gespräch mit einer/m Leidenden, einer/m seelisch Kranken dürfte TherapeutInnen als Moment einer möglichen Epiphanie gelten, in der endlich jener Vorhang einer nur oberflächlichen Vermittlung reißt und der Blick in den eigentlichen seelischen Zusammenhang dieser Welt frei wird. Schmerz, Trauer oder Verrücktheit sind gute Ausgangspunkte für diesen Riss, weil gerade jene, die leiden, nicht mehr der Oberfläche verbunden sind und hinabsinken in tiefere Schichten. Nur – wer hält den Blick in das Nichts einer solchen „nackten Erscheinung“ überhaupt noch für möglich? Spekulationen darüber sind weitgehend abgeschoben in den Bereich von Kunst und Literatur oder werden kampflos esoterischen Knallchargen und ihren Betrügereien überlassen.
Hierin zeigt sich eine bedeutende geistesgeschichtliche Verschiebung, die mit dem Übergang von Feudalismus zu Kapitalismus wohl nur nachrangig beschrieben wird. Erst ein Mensch, der seinem geistigen Vermögen die Fähigkeit zu einer vollständigen Auflösung der Welt in Wertrelationen zumindest potenziell zubilligt, beginnt eine Industrialisierung, da er oder sie nicht mehr fürchten muss, eine jener undurchschaubaren körperlosen Seelen zu verletzen. Ein solches Bewusstsein gewöhnt sich daran, nichts mehr im Kern der Welt zu erahnen, sondern konzentriert sich auf die Bewertung von ursachenlosen Wirkungen. Mit dem bekannten und schwer begreiflichen Erfolg einer immer umfassender umgestalteten Welt (durch die übrigens kaum mehr Käferlein fliegen). Widerstand gegen diese Einseitigkeit ökonomischer Vernutzung ist für kritische Psychotherapie, die sich ja als eine Art „Seelenpflege“ verstehen sollte, einerseits geboten, andererseits enorm schwer. Denn abweichende Interpretationen der Welt, die diese nicht in Wertrelationen aufteilen, gibt es kaum mehr und würden auch vermutlich nicht mehr von den KlientInnen verstanden werden. So wundert sich heute fast niemand mehr bei der Frage: „Was ist meine Liebe wert?“
Die Problematik abstrakter Vermittlung wurde nicht nur von PsychologInnen beklagt. Der US-amerikanische Ökonom Joseph Schumpeter vermutete beispielsweise, dass, nachdem die Industrialisierung weitgehend abgeschlossen sei und nur mehr wenige ertragreiche Investitionsmöglichkeiten bestünden, die Menschen sich von der langweiligen und oberflächlichen Ökonomie abwenden würden, um andere „Abenteuer“ zu suchen und sich dann auch wieder mehr der Pflege ihrer Seelen zuzuwenden. Nun, danach sieht es im Moment nicht aus. Was Schumpeter nicht vorhersah: Der Weltbezug wurde in der Finanzindustrie noch vollständiger aufgekündigt, um mit immer abstrakteren Werten handeln zu können, die keinerlei Bezug zu den Dingen mehr haben.