Robert Menasses Europa-Roman Die Hauptstadt und die Frage nach der Überwindung von Nationalstaaten
Die Hauptstadt ist ein literarisches Manifest des nachnationalen Europa. Erstaunlich daran ist weniger, dass trotz aller Kritik an der gegenwärtigen Politik der EU diese als großes Friedensprojekt gefeiert wird, sondern vor allem, was Menasse dabei als ihr Herzstück ausmacht. Denn der Roman ist nicht zuletzt eine Liebeserklärung an die Europäische Kommission. Das mag zwar trocken klingen, liest sich aber durchwegs spannend und äußerst unterhaltsam.
Daran hat vor allem die liebevolle Zeichnung der äußerst lebendig gestalteten Figuren großen Anteil. Die Bandbreite reicht dabei vom depressiven Beamten der Kulturabteilung, Martin Susman, über den aus einer weitverzweigten Adelsfamilie stammenden schillernden Kabinettschef des Kommissionspräsidenten, Romolo Strozzi, bis zum an Demenz leidenden ehemaligen Lehrer und Auschwitz-Überlebenden David de Vriend. Frauen kommen in Menasses Europa hingegen kaum vor. Die einzige Ausnahme unter den zentralen Personen, die karrieristische Fenia Xenopoulou, bleibt als Figur zudem hölzern und klischeehaft.
Ernsthafte Satire
Dennoch haben die Leser_innen gerade ihr einige der wichtigsten und witzigsten Einsichten des Romans zu verdanken. So erkennt sie im Zuge ihrer Bemühungen: „Für jeden in der Kommission, der ein Projekt voranbringen wollte, war allgemeines Desinteresse daran eine große Erleichterung.“ Großen Witz zieht der Roman auch aus der Gegenüberstellung zwischen einzelnen Bürokrat_innen und dem großen Ganzen des Verwaltungsapparats. Beispielsweise dann, wenn Martin Susman, Leiter der Abteilung EAC-C-2 in der Generaldirektion „Kultur und Bildung“, beim Kauf wärmender Angora-Unterhosen von der Verkäuferin freundlich über die neuen EU-Richtlinien zum Brennverhalten von Unterwäsche aufgeklärt wird.
Der an manchen Stellen durchklingende ironisch-satirische Tonfall dient jedoch nicht bloß als Vehikel der Kritik, sondern ebenso zur überspitzten Darstellung durchaus ernst gemeinter Thesen. Das trifft auch auf den zentralen Handlungsstrang des Romans zu, die Planung eines öffentlichkeitswirksamen „Big Jubilee Projects“ zur Feier des 50-jährigen Bestehens der Kommission. Diese Feier soll ausgerechnet in Auschwitz stattfinden und so an den Gründungsgedanken der Europäischen Union erinnern: „Nie wieder Krieg, nie wieder Auschwitz!“ Dass der einer Wiener Nazi-Familie entstammende progressive Professor Erhart in einer visionären Rede zur Abschaffung der Nationalstaaten dann auch noch vorschlägt, auf den Ruinen von Auschwitz die neue Hauptstadt Europas zu errichten, scheint sich endgültig jeder einfachen Einordnung zu entziehen. Ebenso ratlos macht auch der dem Roman eingeschriebene Krimi-Plot, der bis zum Ende keine nachvollziehbare Funktion erfüllt. Unterhaltsam bleibt er dabei dennoch.
Politische Implikationen
Ein wenig Klarheit in Bezug auf mögliche politische Interpretationen des Romans liefert die Lektüre weiterer Texte Menasses. „Die Hauptstadt“ kann demnach auch als eine freie literarische Verarbeitung der politischen Thesen und Analysen zur Europäischen Union gelesen werden, die der Autor in seiner 2012 erschienen Schrift Der Europäische Landbote zum ersten Mal umfassend dargelegt und seither in zahlreichen Reden genauer ausgeführt hat. Menasse geht es dabei um nichts Geringeres als die radikale Neuausrichtung der EU durch die Rückbesinnung auf die ihr zugrundeliegende Idee, nachhaltigen Frieden in Europa durch die Überwindung nationalstaatlicher Strukturen sicherzustellen.
Dieses Ziel lässt sich seiner Ansicht nach jedoch nur über eine starke zentralistische Verwaltung erreichen, die die Macht nationaler Regierungen zu brechen vermag. Dadurch erklärt sich auch, warum Menasse nicht etwa das Europäische Parlament, sondern die EU-Kommission als die zentrale Institution in den Mittelpunkt seines Romans stellt. Die Stärkung demokratischer Strukturen hält er hingegen für etwas, das erst nach der Etablierung tragfähiger nachnationaler Institutionen durch eine europäische Elite in Angriff genommen werden könne. Da Demokratie aktuell nur in ihrer nationalen Form vorstellbar sei, wäre sie für die Abschaffung der Nationalstaaten nicht nur hinderlich, sondern in Kombination mit der Masse an nicht ausreichend gebildeten Bürger_innen sogar „gemeingefährlich“, meint Menasse.
Aus dieser Perspektive lassen sich dann auch die zahlreichen (Re)nationalisierungsbewegungen (von Schottland bis Polen und Katalonien) als Folge eines Demokratiedefizits sehen, dem in der gegenwärtigen Situation nur durch eine nationale Stärkung des „Volkes“ entgegengetreten werden kann. Als Analyse ist dies durchaus überzeugend. Auch eine starke Skepsis in Bezug auf eine voreilige Verherrlichung jeglicher demokratischen Strukturen mag in Hinblick auf die stark steigenden Zahlen von Wähler_innen rechtsradikaler und faschistischer Parteien noch nachvollziehbar sein, wenn man mit Menasse die Verunmöglichung einer „Wiederholung von Auschwitz“ als die zentrale politische Aufgabe begreift. Ausgerechnet davon aber die Notwendigkeit der bürokratischen Herrschaft einer kleinen (und anscheinend primär männlichen) Elite abzuleiten, scheint dann, gelinde gesagt, doch über das Ziel hinauszuschießen.
Robert Menasse: Die Hauptstadt. Suhrkamp,
Frankfurt am Main 2017