MALMOE

Lebensgeschichtliche Protokolle

Warum sich Marie Jahoda vergeblich gegen die Bezeichnung „Klassiker“ wehrte

Nach 85 Jahren endlich erscheint die Dissertation Marie Jahodas im Studienverlag. Doch die Publikation beschränkt sich nicht auf Jahodas 1932 beendete Doktorarbeit, sondern ehrt diese mit einer ausführlichen Einbettung, sowohl in den historischen und wissenschaftstheoretischen Kontext der Arbeit und ihres Gegenstandes, als auch in das bewegte Leben der Wissenschaftlerin.

In der breit angelegten empirischen Studie – in der Dissertation findet sich Material aus über 50 Fällen, die teilweise erst in anderen Arbeiten ausgewertet werden konnten – führt die junge Sozialwissenschaftlerin Interviews mit 60- bis 80-jährigen Männern und Frauen, die ihren Lebensabend in einem Versorgungsheim verbrachten. In solchen Heimen fanden „Menschen, die von der Pflichtversicherung nicht erfasst wurden, die konjunktur- oder altersbedingt ohne Erwerbsmöglichkeiten waren und die über keinen oder keinen ausreichenden Besitz verfügten“ (243) eine Unterkunft.

In der Beschäftigung mit Altersarmut untersucht Jahoda jedoch nicht nur ein ihrem sozialdemokratischen Hintergrund angemessenes Forschungsfeld, sondern verwendet auch durchaus progressive Forschungsmethoden. So arbeitet sie „mit einfachen, offenen Fragen“ (198) und betont außerdem „das Vetorecht empirischer Daten gegenüber theoretischen Ideen“ (209).

Das Herzstück des Sammelbandes bildet allerdings ein knapp 100-seitiges Porträt, kondensiert aus mehreren Darstellungen Jahodas durch ihren langjährigen Bekannten Christian Fleck. Der Soziologe hält nicht nur Bonbons bereit – so lässt er etwa einfließen, dass Jahoda auf der ersten Silbe betont wird und auf tschechisch Erdbeere bedeutet –, sondern erzählt mit Marie Jahoda auch ein Stück Zeitgeschichte: Untergrundarbeit im Austrofaschismus, Anti-Hitler Propaganda während des Krieges und ihr Einsatz für die Redefreiheit in der McCarthy-Ära. 1953 wurde sie in den USA zu einer Konferenz eingeladen, die sich dem stalinistischen Totalitarismus widmete und auf der viele europäische Flüchtlinge vertreten waren, und selbst hier versuchte sie zu agitieren – wenn auch mit viel Fingerspitzengefühl. Trotzdem geriet sie ausgerechnet mit Hannah Arendt aneinander, als sie den potentiellen Totalitarismus des McCarthyismus ansprach, und dazu aufforderte: „Zu Hause und im Ausland zu zeigen, dass die Demokratie sogar in einer Atmosphäre der Gefahr Freiheiten zu sichern vermag, welche der Totalitarismus fürchtet und daher zerstört.“ (340 f.)

Der neue Sammelband hält nicht nur herzerwärmende Anekdoten bereit, er thematisiert darüber hinaus auch soziale und politische Probleme unserer Gegenwart und bietet Einblicke in das Denken einer Grande Dame des Sozialismus.

Marie Jahoda: Lebensgeschichtliche Protokolle der arbeitenden Klassen 1850–1930. Dissertation 1932. Studienverlag. Innsbruck / Wien / Bozen, 2017