MALMOE

Digitale Unvernunft

Becoming Digital (0x0B)

Kurz nachdem ich den digitalen Geisteswissenschaften in meinem letzten Beitrag so etwas wie Feigheit unterstellte, flatterte mir die Ankündigung für die nächste Jahreskonferenz in den Postkasten. Sie findet heuer in Köln statt, und als wäre meine Forderung nach einem kritischen Umgang mit den eigenen Methoden erhört worden, läuft sie unter dem Titel „Kritik der digitalen Vernunft“ 1. Das klingt erstmal gut, klingt nach Kant, nach Aufklärung, nach Empowerment, nach Mündigkeit. Ein eingängiger Titel. Aber so sehr er seinen Zweck, Interesse zu wecken, erfüllt, offenbart er auf ebenso plakative wie implizite Weise eine Annahme über das Verhältnis zwischen menschlicher Vernunft und maschineller Logik. Eine Annahme, bei der ich mir, wann immer ich ihr begegne, nie sicher bin, ob sie aus reflektierter Überzeugung oder einfacher Unachtsamkeit resultiert.

Was soll sie denn sein, die digitale Vernunft? Nehme ich mir den Vernunftbegriff nach Kant her, so ist Vernunft zum einen das Vermögen des Verstandes, nach gesetzten Prinzipien zu schließen, zu urteilen. So weit, so gut. Durchaus vorstellbar, dass ein solch regelgeleiteter Prozess digitalisierbar ist. Auch die begriffliche Parallele zum englischen „reasoning“ passt hier. Ein armes Bild menschlicher Vernunft aber wäre es, erschöpfte sie sich in bloßer regelgeleiteter Logik. Bringt sie doch zustande, was Kant „Einheit der Erfahrung“ nennt, was wir als Bewusstsein erleben und empfinden, als farbenfrohe Synthese all jener abstrakt-atomistischen Daten, Regeln und Schlüsse zu einem schillernden Mehr. Wo bleibt dieses Mehr in der digitalen Vernunft? So einige der ProphetInnen des Silicon Valley antworten: Wir arbeiten daran. Gebt uns noch fünf oder zehn Jahre und wir sind so weit. Andere wiederum verwerfen es als Illusion, die sich das Gehirn nur vorgaukle. Als biochemische Vision, die wir kraft unserer sezierenden Vernunft lediglich als solche entlarven müssen. Ihnen gemein ist eben die zwanghafte Annahme der Äquivalenz menschlichen Denkens und digitaler Logik, und damit einhergehend, eine Geringschätzung jenes Mehr. Ein Verwerfen all dessen, was sich nicht einfach digitalisieren lässt, sich einer Übersetzung in Algorithmen mit einer endlichen Anzahl abarbeitbarer Schritte entzieht. Kurz, genau dessen, was (Geistes-)Wissenschaft aus meiner Sicht im Kern ausmacht: die kontinuierliche Produktion und Kritik von Erkenntnis und Bedeutung, von etwas, das zwar auf Daten basiert, sich aber nie in ihnen erschöpft.

Viele meiner KollegInnen in den Digital Humanities (DH) würden mir in dieser Kritik prinzipiell zustimmen, gleichzeitig aber auch bemerken, dass sie das alles wissenschaftlich gesehen nichts anginge. Solch abstrakt-idealistische Debatten könne sich wohl allerhöchstens die Philosophie erlauben, sie aber müssten ja Ergebnisse liefern, Projektpläne erfüllen, Vorzeigbares produzieren. Es scheint, als hätten sie bereits kapituliert. Vorbei die Zeiten, in denen Joseph Weizenbaum „Gegen den Imperialismus der instrumentellen Vernunft“ 2 anschrieb. Es scheint, dass sich die kritische Dimension der DH in der Evaluation von Software erschöpft. Dass die bloße Implementierung eines Algorithmus bereits die Kriterien wissenschaftlichen Arbeitens erfüllt. Dass die kritische Reflexion auf eben das, was sich der Modellierung, der Abbildung im digitalen Raum entzieht, allenfalls eine Garnitur oder ein Taschenspielertrick ist. Kurz, es scheint, als hätten wir akzeptiert, dass Vernunft digitalisierbar ist.

Es bleibt zu hoffen, dass sich die analogen gallischen Dörfer in Philosophie und Literaturwissenschaft, in Geschichte und Psychologie nicht einnehmen lassen und es ihnen, in schöner Doppeldeutigkeit des englischen Wortlautes, auch weiterhin gelingt, das unreasonable, das Unvernünftige wie Unvernunftbare, eben das über die reine Logik Hinausgehende, zu wahren.

(1) http://dhd2018.uni-koeln.de/

(2) 
Joseph Weizenbaum: Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1977