In Spanien treffen zwei Nationalismen aufeinander, die jeweils demokratische Prinzipien für sich in Anspruch nehmen und dabei die demokratische Ordnung, in der sich ihre politischen Akteure_innen bewegen, verleugnen.
In einer Sache sind sich katalanische Separatist_innen und die rechts-konservative Partido Popular (PP) unter Führung von Mariano Rajoy einig. Beide gehen davon aus, dass die spanische Verfassung von 1978 die Unabhängigkeit Kataloniens kategorisch ausschließt. Die Separatist_innen bezeichnen sie daher gerne als illegitimes „Gefängnis“, aus dem es auszubrechen gelte. Rajoy wähnt sich hingegen als Wahrer der demokratischen Ordnung. Er gibt vor, die Verfassung verteidigen zu wollen und schließt Verhandlungen über die Unabhängigkeit aus. Bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass es durchaus verfassungsrechtlich gangbare Wege gäbe, um die Unabhängigkeit Kataloniens, zumindest aber ein regionales Referendum, herbeizuführen.
Ein Blick in die Verfassung
Die Spanische Verfassung garantiert in Art. 2 die Einheit der spanischen Nation und weist diese in Art. 1.2 als das souveräne Subjekt aus. Zu dieser Nation gehören alle Bürger_innen Spaniens. Dass sich ein anderes Subjekt für souverän erklärt, widerspricht diesen Grundprinzipen, so die herrschende juristische Auffassung. Deswegen hat das Verfassungsgericht auch regionale Referenden zur Unabhängigkeit untersagt. Schon bei Durchführung einer Abstimmung würde die jeweilige territorial verfasste Gemeinschaft ein von der Verfassung nicht vorgesehenes Selbstbestimmungsrecht für sich in Anspruch nehmen. Es kann also derzeit nicht einmal festgestellt werden, ob eine Mehrheit innerhalb eines Territoriums eine Unabhängigkeit befürwortet.
Möglichkeiten einer Verfassungsänderung
Aber damit ist die Rechtslage noch nicht abschließend erfasst. Denn im Gegensatz zu manch anderer Verfassung, z.B. der deutschen, die ihren Kern mit einer Ewigkeitsklausel absichert, können die Grundprinzipien der spanischen Verfassung sehr wohl innerhalb des Verfassungsrahmens geändert werden. Zugegeben, das Verfahren ist anspruchsvoll. Voraussetzung ist zunächst, dass beide Kammern des Zentralstaates mit einer Zweidrittelmehrheit für das Vorhaben stimmen. Unmittelbar nach der Abstimmung würden die Kammern aufgelöst und es erfolgten Neuwahlen. Die neugewählten Kammern müssten die Verfassungsänderung wiederum mit einer Zweidrittelmehrheit beschließen. Und zuletzt müsste die Verfassungsreform auch noch den Bürger_innen Spaniens in einem Referendum vorgelegt werden.
Das Verfassungsgericht hat wiederholt festgestellt, dass durch eine solche Reform die Einheit der spanischen Nation aufgelöst und neue souveräne Subjekte konstituiert werden könnten. Damit grenzt es sich von einer ethnonationalistischen Verfassungskonzeption ab. Die Nation ist in der spanischen Verfassung nur eine politische Einheit, die durch die Verfassung konstituiert wird, nicht umgekehrt. Und solange die Verfassung durch demokratische Mehrheiten verändert werden kann, steht das demokratische Prinzip über dem der politischen Nation. Deswegen erscheint es auch denkbar, durch eine Reform Referenden auf regionaler Ebene einzuführen, in denen die jeweilige Bevölkerung über die eigene Unabhängigkeit entscheidet.
Hürden bis zur Unabhängigkeit
Dennoch meißelt Rajoy die Einigkeit Spaniens in Stein, wenn er davon spricht, dass diese „nicht verhandelbar“ sei und diejenigen eines Angriffs auf die Demokratie bezichtigt, die das Rechtssubjekt der spanischen Nation in Frage stellen. Als Jurist müsste Rajoy sich der fortschrittlichen Nationalismus-Definition des spanischen Verfassungsgerichts bewusst sein. Ein Regierungschef, der den demokratischen Impetus der Verfassung, die sich selbst zur Disposition stellt, ernst nimmt, sollte die Option des opt-out akzeptieren und Unabhängigkeitsbestrebungen nicht per se als illegitim diskreditieren. Viel zu verlieren hätte Rajoy ohnehin nicht. Auch nach einer offenen Debatte würde sich schwerlich eine ausreichende Mehrheit für die Änderung der Verfassung finden. Selbst in Katalonien befürworten nur knapp 50 % der Bevölkerung die Sezession. Dass Rajoy die Einheit dennoch für unantastbar erklärt, beweist seine ideologische Verankerung im traditionellen spanischen Nationalismus.
Spanischer Nationalismus …
Wie der Historiker Antonio Muñoz Sánchez in einem Standard-Interview anmerkte, gilt Rajoy, dessen Partei die Aufarbeitung der franquistischen Verbrechen seit Jahrzehnten verhindert, in Spanien als jener Politiker, der das Schwenken der spanischen Nationalflagge wieder salonfähig gemacht hat. Zusammen mit moderaten Unabhängigkeitsgegner_innen marschierten rechtsextreme spanische Nationalist_innen vor und nach der Unabhängigkeitserklärung durch Barcelona. Die spanische Flagge als Konsens auf diesen Demonstrationen zeigt die alarmierende Misere der Enttabuisierung.
Als Oppositionsführer brachte Rajoy die nationale Frage wieder auf die Tagesordnung, indem er polemische Kampagnen gegen den Autonomiestatus Kataloniens initiierte. Dies kommt ihm jetzt zugute, denn er gilt als schwächer denn je: Letztes Jahr brauchte er fast zehn Monate, um eine neue Regierung zu bilden. Zudem weitet sich eine Affäre um veruntreute Gelder, in die große Teile der PP-Elite verwickelt zu sein scheinen, zunehmend aus. Daher spielt Rajoy die nationale Karte und versucht daraus unmittelbar politischen Profit zu ziehen.
… trifft auf katalanischen Nationalismus
Fatalerweise setzen die Gegner_innen des spanischen Nationalismus in Katalonien ihrerseits auf einen ethnischen Nationalismus. Da sie wissen, dass sie derzeit in Bezug auf ganz Spanien nicht mit demokratischen Mehrheiten rechnen können, um die Verfassung zu ändern, haben sie begonnen, die Verfassungsordnung per se zu delegitimieren. Ob es aber demokratisch ist, die demokratische Ordnung, in der man lebt, deswegen nicht zu befolgen, weil man sich als ethnische Nation versteht, muss bezweifelt werden.
Wenn die Sezessionist_innen nach der rechtlichen Grundlage für ihr Vorgehen befragt werden, wird der Verfassungsrahmen nicht einmal erwähnt. Sie berufen sich auf das im Völkerrecht verankerte „Selbstbestimmungsrecht der Völker“, das sie im ethnonationalistischen Sinne missverstehen. Denn wer oder was ist hier das Volk, das sich selbst bestimmen will?
Das katalanische Volksverständnis
Die Parteien des separatistischen Wahlbündnisses Junts pel Sí („Zusammen für Ja“) haben auf diese Frage eine klare Antwort parat: Das Volk sind alle Katalan_innen, egal ob sie in Frankreich, den anderen Provinzen Spaniens, in Andorra oder in der sardinischen Stadt Alghero zu finden sind. Hauptsache, sie leben und verteidigen die katalanische Kultur und Sprache. Diese anachronistische Auffassung im modernen Gewand, die Volkszugehörigkeit aus kulturellen Merkmalen herleitet, hat in den Parteiprogrammen der Sezessionist_innen eine zentrale Bedeutung.
Ähnliche kulturelle Referenzen auf die „Katalanischen Länder“ findet man sogar in der Programmatik der linksradikalen CUP (Candidatura d‘Unitat Popular), die immerhin mehr als 8 % der Stimmen für sich verbuchen konnte und bis zuletzt als Mehrheitsbeschaffer des separatistischen Wahlbündnisses fungierte. Sehr wohl wird in begleitenden Diskussionstexten der Katalanismus als „Nationalismus der Diversität und Solidarität“ interpretiert, der strategisch notwendig ist, um volle Selbstbestimmung zu erlangen. Die sozialen Kämpfe sollten, so manche Stimmen innerhalb der Partei, das kulturelle Gedächtnis eines neuen Kataloniens bilden – jene Identität, auf der eine neue sozialistische Republik von unten erbaut werden soll.
Wo ist die Kritik des Nationalismus?
Betrachtet man aber die ideologische Einstellung der zwei größten Unabhängigkeitsparteien, Puigdemonts liberale bis konservative PDeCAT (Partit Demòcrata Europeu Català) und die der Mitte-links gerichteten ERC (Esquerra Republicana), findet man wenig von einer solchen kritischen Diskussion um den Nationalismus. Im Gegenteil: Man stößt auf noch mehr Nationalismus und teilweise abstruse Gebietsansprüche basierend auf einer „gemeinsamen Kultur“.
Puigdemonts Partei kommt die harte Auseinandersetzung gelegen. Nach dem Korruptionsskandal der Vorgängerpartei fragt inzwischen niemand mehr. Außerdem wird in Katalonien so wenig wie noch nie über soziale Kämpfe gegen die neoliberale Sparpolitik der Regionalregierung debattiert. Die neu gehisste katalanische Flagge verdeckt diese Kämpfe und suggeriert eine Einheit, die es unter den Separatist_innen so nicht gibt.
Dies alles zeigt, dass nicht die spanische Verfassung das Problem ist, sondern die Konfliktparteien. Beide versuchen das Prinzip der Demokratie dem Nationalismus unterzuordnen, um daraus ganz unmittelbar politisches Kapital zu schlagen.