MALMOE im Gespräch mit Martin Hagmayr und Robert Hummer vom Museum Arbeitswelt Steyr zur aktuellen Ausstellung Supersozial!? Vom Armutszeugnis bis zur Mindestsicherung über die Geschichte des österreichischen Sozialsystems.
Das Museum Arbeitswelt, das sich in einem ehemaligen Fabriksgebäude im Steyrer Stadtteil Wehrgraben befindet und früher einmal Teil der für die Stadt bedeutsamen Waffenfabrikation war, widmet sich seit 30 Jahren der Geschichte der Arbeit als „Geschichte von unten“. Wir treffen uns im Herzstück der Ausstellungsräume: der nachgebauten Gaststube des Gasthauses Zum Goldenen Pflug, das früher ein wichtiger Versammlungsort der Arbeiter_innen gewesen war. Anhand von Armutszeugnissen und Arbeitsbüchern wird den Biografien und Handlungsperspektiven der Arbeiter_innen nachgespürt – und nicht nur eine Speisekarte von 1914 wirft die Frage auf, was können wir uns leisten?
MALMOE: Die Ausstellung „Supersozial“ basiert auf der Landessonderausstellung „Hilfe“, die 2015 in Gallneukirchen gezeigt wurde. Was waren für euch wichtige Überlegungen für die Adaption?
Martin Hagmayr: Die Ausstellung in Gallneukirchen hat uns sehr beeindruckt. Sie war stark auf Gallneukirchen zugeschnitten und legte einen Schwerpunkt auf die Betreuung von Menschen mit Beeinträchtigungen. Wir haben vor allem Elemente ausgewählt, die den Schwerpunkt auf Arbeit legen. So wie sie in Gallneukirchen sehr gut zum Ort gepasst hat, so passt diese Ausstellung sehr gut zu unserem Haus, mit der Frage, wie die Entwicklung des Sozialstaats mit der Industrialisierung, mit den Arbeiter_innen zusammenhängt.
Was war in diesem Gebäude früher?
Robert Hummer: Das Museum ist in einem denkmalgeschützten Fabriksgebäude aus den 1870er Jahren untergebracht, das Teil der Ludwig Werndl’schen Messerfabrik war und in den 1880er Jahren in die Waffenfabrik integriert worden ist. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs wurde massiv expandiert und die alten Produktionsanlagen hier im Wehrgraben haben sukzessive an Bedeutung verloren. In den 60er Jahren ist das Gebäude ins Eigentum der Hack-Werke übergegangen. Es wurde dann Essbesteck produziert. Nach dem Konkurs der Hack-Werke hat 1985 der Museumsverein das Gebäude gekauft, um – inspiriert von englischen Museen – ein Museum zu errichten, das der Geschichte der Arbeit gewidmet ist. Die erste Landesausstellung Arbeit Mensch Maschine. Der Weg in die Industriegesellschaft 1987 war ein Riesenerfolg mit 350.000 Besucher_innen. Das war eine sehr gute Grundlage, aus etwas Temporärem etwas Dauerhaftes zu machen. Man hat sich anschließend entschieden, sich nicht nur auf die Musealisierung der Geschichte der Arbeit und der Industrialisierung zu konzentrieren, sondern sich immer wieder neu zu erfinden und aktuellen Themen zu widmen, die sozusagen „unter den Nägeln brennen“. Beispiele dafür sind die Ausstellung zum Thema Migration in den frühen Nullerjahren oder zuletzt eine große Präsentation zum Thema NS-Zwangsarbeit.
Das ist mit dem „Stollen der Erinnerung“ ja auch ein Schwerpunkt in der Arbeit des Museums.
MH: Dass wir einen Schwerpunkt auf das Thema NS-Zwangsarbeit legen, hängt auch mit der Geschichte des Hauses zusammen, in dem als Teil der Steyr-Daimler-Puch AG im Nationalsozialismus Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen eingesetzt wurden.
RH: Über die Geschichte Steyrs lässt sich Zeitgeschichte – Zwischenkriegszeit, Erster Weltkrieg, Industrialisierung und NS-Zeit – auf unglaublich tolle Art erzählen. Wenn man diese an authentischen Orten erzählt und dann hier rausgeht, hat man die Spuren dieser Geschichte noch präsent.
Gerade eine Ausstellung wie Supersozial lebt von der Vermittlung. Was habt ihr euch zur Umsetzung und zur visuellen Gestaltung überlegt?
MH: Das Thema Sozialstaat ist ein sperriges, abstraktes Thema, obwohl es uns eigentlich tagtäglich betrifft. In der „Hilfe“ hat man sich dafür entschieden, Comic-Elemente im Graphic-Novel-Stil einzubauen, die anhand von großen Figuren und Bildern Dinge verständlich machen. Das haben wir versucht für Steyr zu übernehmen. Es macht greifbar, dass es einen Unterschied macht, ob ich um Hilfe bitten muss oder ob ich einen Rechtsanspruch auf Unterstützung habe.
RH: Wenn man in die Ausstellung reingeht, sieht man als erstes die Illustrationen von Johanna Wögerbauer. Ich kann abstrakt über das Heimatrecht der 1860er Jahre reden, aber ich glaube, es ist schwer da junge Leute zu erreichen. Mein Einstieg ist, mit einer Gruppe über diese Bilder zu reden. Die Jugendlichen sehen auf den ersten Blick diese gebückte Körperhaltung von Hilfesuchenden und alleine daraus ist sofort klar, worum es geht.
Eine zentrale Frage der Ausstellung ist: Wer soll unterstützt werden? Im Titel kommt schon das „Armutszeugnis“ vor – was ist das eigentlich?
MH: Armutszeugnis sagt man heute umgangssprachlich, wenn etwas schlecht gemacht wurde. Im 19. Jahrhundert war das ein Nachweis, mit dem man um Unterstützungsleistungen ansuchen konnte. Man musste sich beim Armenrat der Gemeinde melden und dieser hat überprüft, ob die Person arm genug ist, ob sie ein „würdiger“ Armer oder ein „unwürdiger“ Armer ist. Erst wenn das gewährt wurde, gab es ein Zeugnis, mit dem dann Unterstützungsleistungen angefordert werden konnten. Ganz wichtig natürlich: das Armutszeugnis wird gewährt, es gibt keinen Rechtsanspruch auf Leistungen.
RH: Es wurde immer individuell beschieden. Es konnte zum Beispiel ausschlaggebend sein, ob jemand am Sonntag in die Kirche geht oder nicht, als „Aufwiegler“ oder als angepasst zu gelten. Da sieht man schon die Grunddimension von sozialer Fürsorge, die immer auch etwas mit Disziplinierung zu tun hat. Es gab auch ein Zwangsarbeitsgesetz.
Was war der Inhalt des Zwangsarbeitsgesetzes?
RH: Das ist 1885 verabschiedet worden. Dieses Gesetz ermöglichte es, Arbeitslose bis zu drei Monate in einer Zwangsarbeitsanstalt zu inhaftieren. Wenn dir Arbeit angeboten wurde und du die nicht angenommen hast, dann wurdest du zur Arbeit verpflichtet.
Wie lang war das aufrecht?
RH: Das Gesetz war in Grundzügen über die gesamte Habsburgermonarchie aufrecht. Um 1929/30 gab im Zuge von Massenarbeitslosigkeit und Weltwirtschaftskrise wieder Verschärfungen in diese Richtung – genau an einem Punkt, als die Gesellschaft schrittweise ins Autoritäre kippt. Arbeitslosigkeit wird klassischerweise nicht als gesellschaftliches Problem, sondern als individuelles Problem gesehen. Das Individuum gilt es dann mit repressiven Maßnahmen dort hin zu bringen wo man es gerne haben möchte, auch wenn das nicht funktionieren kann, wenn es keine Arbeit gibt. Die Heimatrechtsnovelle von 1935 ermöglicht dann die Einrichtung von Bettler-Anhaltelagern – das ist dann der nächste Schritt
Die Objekte im zweiten Teil der Ausstellung, der sich vor allem auf die Geschichte Steyrs in der Zwischenkriegszeit konzentriert, z. B. die Wohnbaracke und das Gasthaus, in dem wir gerade sitzen – die hat es vorher schon im Museum gegeben und wurden in die aktuelle Ausstellung integriert?
RH: Ja, was wir unbedingt einbringen wollten, zu dieser Szenerie Steyrs der 1920er und 1930er Jahre, war die Geschichte der Auswanderung. Wir haben ganz bewusst dieses Thema in der örtlichen Geschichte hervorgeholt, das bis jetzt ein unterbeleuchtetes ist. Es gab Mitte der 1920er Jahre eine große Auswanderungswelle.
Wegen der Massenarbeitslosigkeit in der Zwischenkriegszeit, weil die Waffenfabrikation massiv zurückging?
RH: Genau. Eine der Reaktionen darauf war Auswanderung nach Brasilien, interessanterweise nicht nach Nordamerika. Wir haben dazu Zeitungsartikel und Anzeigen recherchiert, die über den Sonderzug berichten, mit dem auf einen Schlag 500 Leute aus Steyr abgefahren sind. Bis 1931 waren es 1400 Menschen, die ausgewandert sind.
Besonders interessant ist dazu auch die Plakatwand mit den Zeitungsberichten aus dem Kuckuck. (Anm.: Die sozialdemokratische Wochenzeitung Der Kuckuck erschien von 1929 – 1934.)
RH: Ja, dazu kommen viele überraschte Reaktionen. In der Gegenwart begreift man sich als ein Einwanderungsland. Das Narrativ, dass hier einmal massiv Leute ausgewandert sind, das ist total marginalisiert. Dazu bekommt man nicht nur von Jugendlichen, sondern auch von Erwachsenen die Reaktion: Was, nach Brasilien?
Nach Brasilien und in die Türkei?
MH: Genau, es gibt dieses Originalzitat: „Nicht in Brasilien, nicht in der tiefsten Türkei kann es schlechter sein als hier in Steyr“. Dass Brasilien und Türkei in den 1920er Jahren potentielle Auswanderungsländer waren, das überrascht Jugendliche und auch Erwachsene. Auch die Vorstellung, dass noch vor 90 Jahren ein Fünftel der Wohnbevölkerung in Steyr in solchen Wohnbaracken gewohnt haben. Historisch betrachtet ist das überhaupt keine lange Zeit.
Ein Teil der Ausstellung widmet sich dem rassistischen Wohlfahrtsstaat im Nationalsozialismus. Inwiefern ist das ein Bruch im österreichischen Sozialsystem?
MH: In der Ausstellung behandeln wir das Versicherungswesen allgemein und setzen einen großen Schwerpunkt auf die Zeit der Ersten Republik, wo es zum ersten Mal eine allgemeine Arbeitslosenversicherung gab. Wichtig ist uns zu sagen, dass im Falle von Österreich und Deutschland diese riesengroße Arbeitslosigkeit zu einer Radikalisierung in Richtung Ständestaat geführt hat, in Richtung Nationalsozialismus. Das ist aber nicht in allen Ländern so gewesen, hohe Arbeitslosigkeit bedeutet nicht automatisch Faschismus oder Rechtsradikalismus. Wir reflektieren in der Ausstellung die Versprechen des Nationalsozialismus, die nach Österreich herüberschwappten. Ein ganz konkretes Beispiel: das Versprechen, Arbeitslosigkeit zu beseitigen, erreichte man auf Basis der Vertreibung von ganz vielen Personen vor allem jüdischen Glaubens aus Österreich, Deportationen ins Konzentrationslager, Einberufungen zur Wehrmacht und ganz massiv dem Ausbau der Rüstungsindustrie. Am Beispiel Steyrs sieht man das ganz stark. Da gab es einen so großen Bedarf an Arbeitskräften, dass im Nationalsozialismus 50 % der Beschäftigten der Steyr-Daimler-Puch AG Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen gewesen sind.
RH: Spannend ist dabei die Geschichte der Pensionsversicherung. Hier konnte der Nationalsozialismus sehr davon profitieren, dass es so etwas noch nicht gab, weil sich die beiden Großparteien in der Ersten Republik nicht darauf einigen konnten. Das war im Rückblick betrachtet ein großes politisches Versagen der Ersten Republik, das dann für die Nationalsozialisten Möglichkeiten geboten hat. Man muss dazu sagen, dass per 1.1.1939 das reichsdeutsche System der Sozialversicherung auf Österreich übertragen und damit die Pensionsversicherung auch in Österreich eingeführt worden ist. Dieses System der Nazis zielte von Anfang an nicht auf das Individuum ab, sondern auf das „Volk“ – und das Volk war immer in einem rassistischen Sinn gemeint.
Was kann aus eurer Sicht eine Betrachtung des Sozialstaats aus historischer Perspektive zu aktuellen Debatten beitragen?
MH: Ein wichtiger Punkt ist einmal zu sehen, wo kommt das Sozialsystem in dem wir jetzt leben eigentlich her? Natürlich zeigen wir in der Ausstellung auch eine Erfolgsgeschichte, wir haben ein gutes Sozialsystem. Aber wir enden nicht mit der Feststellung, so ist es jetzt und wird es ewig sein, sondern mit der Frage, wie geht es weiter. Am Ende der Ausstellung stellen wir die Frage, warum brauchen wir Solidarität, was bedeutet Solidarität im System, z. B. in der Krankenversicherung, die solidarisch aufgebaut ist. Oder: Was könnte es bedeuten, wenn das Sozialsystem wieder groß umgestaltet wird.
RH: Wenn man sich einen gegenwärtigen politischen Diskurs anschaut, reden Menschen, die selbst keine materielle Not leiden, relativ salopp darüber, dass man Leistungen „deckelt“. Wenn man durch die Ausstellung geht, dann sieht man Menschen, die der Armut ausgesetzt sind. So einen Blickwinkel aufzumachen, so eine Form von Sensibilisierung herzustellen, ist aus meiner Sicht viel mehr wert, als wenn wir uns hier hinstellten und einen Kommentar zur aktuellen Mindestsicherungsdebatte abgeben. Wenn sich die jungen Leute mit der Geschichte der Auswanderung auseinandersetzen sind wir schnell mitten in der Debatte, und plötzlich fällt das Wort „Wirtschaftsflüchtling“. Ich denke, dass man etwas erreicht, wenn man so einen Begriff, anhand der Geschichte diskutiert und vielleicht auch dekonstruiert.