Ein Interview mit Sebastian Vetter von der Platypus Affiliated Society
Gelegen im Nirgendwo Vorarlbergs steht der Vetter-Hof, einer der ältesten Bio-Agrarbetriebe der Region, der baulich den israelischen Kibbuzim nachempfunden wurde. Sebastian Vetter, einer der Söhne des Bauern, verbringt seinen Sommer hier, um bei der Produktion und im Verkauf mitzuwirken. Was auf dem Vetter-Hof produziert wird, verkaufen die Vetters selber – auch auf dem Gebiet der Direkt- und Selbstvermarktung sind sie Pioniere. Das restliche Jahr lebt Sebastian in Wien, wo er den österreichischen Ableger der Platypus Affiliated Society aufgebaut hat, eine in den USA verwurzelte marxistische Organisation, die die von Studenten Moishe Postones gegründet wurde.
Bei meiner Ankunft sitzt Sebastian Vetter auf der Holzbau-Veranda und liest konzentriert im Journal seiner Gruppe. Nach einer kurzen Hof-Führung trinken wir Kaffee und kommen zur Sache. Es gilt, die gegenwärtige Situation des Marxismus zu besprechen.
MALMOE: Bitte erkläre in aller Kürze, um was es sich bei der Platypus Affiliated Society eigentlich handelt? Wie funktioniert eure Organisation in etwa? Wer hat sie gegründet, was für ein Angebot habt ihr an die Linke?
Sebastian Vetter: Die Platypus Affiliated Society wurde Mitte der 2000er-Jahre in Chicago gegründet, wir haben inzwischen Chapters in zahlreichen nordamerikanischen und europäischen Städten.
Wir haben uns mit dem Ziel gegründet, eine Debatte über den Tod der Linken zu führen, weil wir glauben, dass die Tabus und Ausreden, mit denen die vermeintliche Linke der Gegenwart hantiert, auf den Traumata der Vergangenheit fußt – sei es jenes des orthodoxen Marxismus oder das Versagen der neuen Linken um 1968.
Die Organisation dient dazu, den Mitgliedern einen Rahmen zu bieten, in welchem sie dieser Aufgabe gemeinsam nachgehen können. Wir versuchen „die Diskussion zu organisieren die sonst nicht stattfinden würde“. Konkret schaut das so aus, dass wir versuchen, die verschiedenen Strömungen der zeitgenössischen Linken auf ein gemeinsames Podium zu bringen, auf dem dann zivilisiert die eigene Position vorgetragen und die jeweilige Kritik aneinander entfaltet werden kann. Wir wollen die Sprechenden nicht dazu bewegen, bei uns mitzumachen oder Mitglieder zu werden, geschweige denn sie geistig zu bekehren. Es geht uns darum Klarheit zu schaffen. Und darum, der Gesprächsverweigerung, die zwischen linken Gruppen vorherrscht, entgegenzuwirken. So lang diese Debatten ausbleiben, wird es auch nicht zu einer praktischen Wiedergeburt der Linken kommen.
Magst du euer Verhältnis zum US-Marxisten Moishe Postone ein bisschen näher ausführen?
Unsere Organisation wurde vorwiegend von Student_innen Postones gegründet, der eine wichtige Lehrfunktion für viele von uns eingenommen hat. Trotz oder gerade wegen seiner Aversion gegen den orthodoxen Marxismus konnte er gewinnbringende Einsichten in den Zustand der marxistischen Linken des späten 20. Jahrhunderts vermitteln.
Und wie verhält sich Postone zu euch?
Distanziert. Ich glaube, die Erfahrungen des deutschen Herbstes, des RAF-Terrorismus im Anschluss an die 68er-Bewegung in Deutschland, hatten einen prägenden Eindruck bei ihm hinterlassen. Der vorgebliche orthodoxe Marxismus dieser Terrorist_innen veranlasste ihn dazu, „das Kind mit dem Bade auszuschütten“ – so richtig seine Kritik an diesen auch ist. Es mag überspitzt klingen, aber ich glaube, dass man hier sehen kann, wie eine traumatische Erfahrung nicht zu einem mehr an Erkenntnis über die politischen Aufgaben, die im Marxismus formuliert sind, führt. Im Gegenteil wirkt es so, als wären wir aus diesem Teil der Geschichte nicht schlauer geworden.
Also du meinst, dass diese Fehlentwicklung lediglich negativ, nicht positiv aufgehoben wurde?
Genau, man hat den Eindruck, das einzige, was man daraus gelernt hat, ist, was man nicht tun sollte. Gerade im Hinblick auf die Schriften von Lenin über den Terrorismus scheint es jedoch ein absurder Schluss zu sein, wenn versucht wird, diese auf Gewalt und Angst basierende Praxis über den Marxismus zu legitimieren. Interessant sind dazu die Positionen Rosa Luxemburgs zur „Ordnung“, welche nach ihr eigentlich von den Politikern und Kapitalisten ins Chaos gestürzt wird – und deren Herstellung eigentlich Aufgabe der Linken wäre. Die Linke scheint sich heute jedoch vielmehr mit dem Bild des „Unruhestifters“ zu identifizieren. Sie ist weder willens, noch fähig, eine vernünftige soziale Ordnung herzustellen.
Heuer wird das Revolutionsjahr zum 100. Mal begangen. Von den Systemalternativen des vergangenen Jahrhunderts scheint kaum etwas übrig geblieben zu sein. Ihr bezieht euch ja in eurem alternativen Namen – Platypus1917 – direkt auf das Revolutionsjahr. Warum ist das für euch und eure Geschichtsphilosophie ein so wichtiges Datum?
Niemand, der sich mit der Linken beschäftigt, kommt am Jahr 1917 vorbei. Auch nach 100 Jahren spielt die Frage „Wie hält man es mit der Oktoberrevolution und dem revolutionären Marxismus?“ eine zentrale Rolle im Gebrauchtwarenladen der politischen Ideologien. Die Oktoberrevolution war der größte Sieg und die größte Niederlage des Marxismus zugleich, deswegen ist auch der Bruch, den sie in die Linke geschlagen hat, so gewaltig. In der Russischen Revolution wurde zum ersten Mal in der Geschichte der moderne Staat erfolgreich zerschlagen und durch einen proletarischen ersetzt. Darin liegt die außergewöhnliche Leistung. In Lenins Augen war die Oktoberrevolution eine gelungene, eben weil sie den zaristischen Staat zerschlagen konnte. Er hat diese jedoch gleichsam als bürgerliche Revolution verstanden, weil erst mit ihr die Errungenschaften der französischen Revolution für Russland gewonnen wurden. Die sozialistische Revolution hingegen war nach seiner Auslegung erst im Werden begriffen und von der ausbleibenden Weltrevolution abhängig.
In den folgenden Jahrzehnten haben sich alle marxistischen Bewegungen am Beispiel der Komintern-Strategie abgearbeitet, in Zustimmung wie in Ablehnung. Aufgrund dieser Dichotomie, aber auch hinsichtlich der Tatsache, dass die Linke seit diesem Datum nicht in der Lage war, als Akteurin ihre eigenen Ziele zu erfüllen, lässt sich die einzigartige Bedeutung dieses Jahres bestimmen. Diese Erinnerung bleibt so lange von Relevanz, bis die Probleme von 1917 gelöst sind.
Ein zentraler Leitsatz eurer Organisation lautet „Die Linke ist tot! Lang lebe die Linke!“. Wie meint ihr das? Wann und warum ist das passiert?
Die Frage ist eben, ob der Marxismus überhaupt lebt, ob er existiert, wenn er nicht real vorhanden ist, wenn er nicht gewinnt. Der Marxismus entstand als eine Selbstkritik des Sozialismus. Er bot nicht nur eine Analyse der Gesellschaft, er versuchte auch ein Bewusstsein über die notwendigen Ziele einer Politik, die dem Projekt der Freiheit verpflichtet war, zu erlangen.
Folgende Episode marxistischer Geschichtsschreibung verbildlicht die Rede von einer „toten“ oder „lebendigen“ Linken: Rosa Luxemburg und Lenin sahen den aufkommenden Reformismus der zweiten sozialistischen Internationale als ein Produkt der widersprüchlichen Entwicklung, man könnte sogar sagen als Resultat eines relativen Erfolgs der marxistischen Arbeiter_innenbewegung. Die SPD wurde gemeinsam mit ihren Gewerkschaften zu einer Massenpartei mit vielen Millionen Mitgliedern. Teile der Partei gingen davon aus, dass die Revolution nicht mehr notwendig wäre. 1914 war die Zustimmung der SPD für die Kriegsbeteiligung unabdinglich, sie hat sich durch diese schließlich zu einem Werkzeug des Deutschen Staates gemacht und ging letztlich in diesem auf. Luxemburg hat diese Beteiligung massiv kritisiert, da es Aufgabe der Linken gewesen wäre, den Weltkrieg in eine Revolution zu verwandeln – immerhin waren zu diesem Zeitpunkt Millionen SPD-Mitglieder bewaffnet. Der Fehler lag aber in der Frage „Wer benützt wen?“ – die SPD wurde zu einem Werkzeug des Kapitals, und nicht das Kapital zu einem Werkzeug der sozialistischen Revolution.
Das ist aber nur ein Todesfall unter vielen. Jene Marxist_innen, die es weiter gebracht haben, sind bekanntlich auch gescheitert. Das prominenteste Beispiel hierfür ist zweifelsohne der Stalinismus, der aus dem orthodoxen Marxismus der Bolschewiki entwachsen ist, und zugleich dessen Vernichtung darstellt.
Bei der 68er-Bewegung stellt sich die Frage, ob diese angesichts ihrer entpolitisierten Ziele überhaupt scheitern konnte.
Im Zuge dieser geschichtsphilosophischen Todeserklärung müsst ihr euch doch bestimmt die Frage der Wiederbelebung gestellt haben? Welche Kämpfe kann und sollte eine Linke heute führen? Welche Rolle spielt dabei eine „Bewegung“?
Man müsste verstehen, dass Theorie und Praxis nicht mehr eins sind. Ohne Praxis kann man die Welt nicht verstehen und ohne eine adäquate Theorie bleibt Praxis Schein. Um diesen Zirkelschluss zu durchbrechen, ist es notwendig zu begreifen, in welcher Situation sich die Linke befindet und wie sie dorthin gekommen ist. Die schlechte Pädagogik, sei es jene der Identitätspolitik oder jene der antideutschen Ideologiekritik, suggeriert, man hätte das richtige Wissen über die Theorie und Praxis des Marxismus im 21. Jahrhundert. Weder ist linke Politik identisch mit der vermeintlich moralischen Praxis „Gutes zu tun“, wie das in postmodernen Strömungen versucht wird. Noch kann man sich in isolierter, theoretischer Sicherheit wägen, wenn man die Wunde der nicht-vorhandenen Politik ignoriert, wie das bei der zeitgenössischen Deutung der Kritischen Theorie der Fall ist.
Zur Frage der Bewegung hat der deutsche Sozialdemokrat Eduard Bernstein einmal gesagt: „Die Bewegung ist alles, das Ziel ist nichts.“ Das ist in meinen Augen falsch, denn es kann sich noch so viel bewegen, wenn es kein Ziel gibt, bleibt alles Zeitverschwendung. Umgekehrt kann eine marxistische Linke nicht nur eine Kopfgeburt sein.
Ihr habt während des Wahlkampfes in Amerika und auch nach der Wahl für reichlich Aufregung in der Linken gesorgt, weil ihr – anstatt im Kanon des linksliberalen Trump-Bashings mitzusingen – die Linke zur Verantwortung gezogen habt. Magst du die damals geäußerte Kritik ausführen?
Wir organisieren Debatten, aber die Beiträge, die wir veröffentlichen, sind nicht unsere Position als Platypus. Als eine Organisation, die sich zwar mit Politik beschäftigt, aber keine Politik macht, wäre es auch absurd realpolitische Positionen zu vertreten. Was wir anbieten können, ist ein anderer Blick auf das Phänomen Trump.
Trump steht für einen Umbruch, für die Krise des Neoliberalismus oder um es konkret zu veranschaulichen, für die Krise der Reagan-Koalition, die seit den 1980ern die Republikanische Partei leitet. Der „Anti-Trumpism“ steht für die Unfähigkeit, diese Veränderungen zu sehen und ernst zu nehmen. Es geht nicht einfach nur darum Wahlempfehlungen für Hillary Clinton, wie sie von Noam Chomsky oder Judith Butler gekommen sind, als politisch fahrlässig zu kritisieren. Eine zukünftige Linke in den USA ist nicht als Abspaltung von den Demokraten zu denken, aber als eine Kraft die sehr wohl weiten Teile der Wähler_innenschaft der Demokraten und der Republikaner für den Sozialismus gewinnen muss. Die meisten Menschen, die Trump gewählt haben, taten das nicht aus rassistischen Gründen. Sie sehen, dass die Politik in Washington nicht in ihrem Interesse stattfindet und dass die von Trump versprochenen ökonomischen Reformen ihnen helfen könnten. Trump selber ist ein Pragmatiker mit einem starken Drang zu „Law and Order“, aber das macht ihn nicht zum Faschisten. Uns wird oft vorgeworfen, wir würden „Trump unterstützen“, dabei geht es uns darum, die Integration der Linken in die Demokraten zu kritisieren.
Walter Benjamin hat in seiner unvollständigen Spätschrift „Über den Begriff der Geschichte“ hinsichtlich vergangener gesellschaftlicher Kämpfe vermerkt, dass auch „die Toten […] vor dem Feind, wenn er siegt, nicht sicher“ wären, und „dieser Feind hat zu siegen nicht aufgehört.“ Ohne das plumpe Geschwätz vom „Ende der Geschichte“ aufwärmen zu wollen – im Getöse des globalen Siegeszug des Kapitalverhältnisses, scheinen die Stimmen, die dessen Ende einfordern, zu verstummen und mit ihnen die historische Rückbesinnung auf den marxistischen Revolutionsgedanken. Was bleibt denn eigentlich von der Hoffnung auf die befreite Gesellschaft?
Man könnte sagen, Benjamin selbst hat zu sterben nicht aufgehört. Generationen von Akademikern haben sich darangemacht, die in diesem Text verfassten Schlüsse in eine „Geschichte der Unterdrückten“ umzuinterpretieren. Doch der Marxismus sagt eben nicht, dass die letzten die ersten sein werden, er ist keine Theorie der Gerechtigkeit. Marxismus will bestehende Konflikte überwinden, nicht scheinschlichten, nicht verwalten. Die Toten, von denen Benjamin schreibt, sind die Revolutionäre der Vergangenheit. Ihr Leben war umsonst, wenn ihre Erfahrung vergessen wird, bevor die Aufgabe vor der Sie standen – die kapitalistische Gesellschaft zu einer sozialistischen Revolution zu leiten – erfüllt ist.
Im Hinblick auf Benjamin zu fragen, welche historischen Momente in die Gegenwart verweisen, welche Bilder eben „im Moment der Gefahr aufblitzen“. Die Toten, von denen er spricht, können erst erlöst werden, wenn die andauernden Aufgaben der Vergangenheit in der Gegenwart gelöst werden. Erst dann hört das Gespenst des Kommunismus auf, die Lebenden zu jagen.