Die Revolution sprengt die Ketten von Raum und Zeit
Auf die Frage wie der Himmel im Kosmos aussähe, soll Juri Gagarin geantwortet haben: „Dunkel, Genossen, sehr dunkel.“
Damit könnte die Sinnsuche im Kosmos für die Genoss_innen beendet sein. Allerdings lebten religiöse Vorstellungen auch in der atheistischen Sowjetunion fort, waren sogar Bestandteil ihres Gründungsmythos, wenn auch in veränderter Form. Denn nun stand kein außerhalb Außerhalb des Menschen mehr zur Verfügung, dass als Projektionsfläche für menschliche Allmachtsphantasien dienen könnte. Deshalb verschwanden diese wahnhaften Vorstellungen jedoch nicht, sie änderten nur ihre Form.
Mit dem 20. Jahrhundert beginnt die Geschichte der Raumfahrt, zu deren „Vater“ der russische Raketenwissenschaftler Konstantin Eduardowitsch Ziolkowski in der Sowjetunion erhoben wurde. Ziolkowski, der neben wissenschaftlichen Texten auch Science-Fiction schrieb, ging davon aus, dass die Menschheit zu interplanetarischen Reisen aufbrechen und die Erde – Tiere, Meere, Pflanzen und Atmosphäre – nur noch als riesige Ressource nutzen werde. Am Ende dieser von Ziolkowski kontinuierlich verfolgten Vorstellung, steht die Weiterentwicklung des Menschen als kohlenstoffbasierte Lebensform zu reiner Strahlung. Nicht weiter verwunderlich, dass er geglaubt haben soll, sich mit Engeln zu unterhalten. Und da war Ziolkowski leider keine Ausnahme, auch andere „Väter“ der Raumfahrt, Hermann Oberth, Max Valier u. a. glaubten an Übersinnliches und Paranormales.
Klassenkampf und Naturgesetze
Diese Vermischungen von Wissenschaft und Religion können mit Linus Hauser unter dem Begriff Neomythen gefasst werden. Solche beziehen sich nach Hauser auf die Aufhebung der Endlichkeit durch Menschen.
1922 veröffentlicht eine sich „Kreatorium russischer und Moskauer Anarchisten-Biokosmisten“ nennende Gruppe in der Izvestia einen Artikel in dem sie Immortalität und Interplanetarismus forderte.
Was das Ganze mit Kommunismus zu tun hat ist schnell erklärt: Die Toten sind die Ausgebeuteten der kommunistischen Zukunft, da sie nicht Teil dieser Zukunft sind, folglich muss ihre Auferweckung die Aufgabe der Kommunistinnen sein. Nun könnte es sich dabei um ein Gedankenspiel handeln, doch die Biokosmistinnen, zu denen sich auch Ziolkowski zählte, meinten das ernst. Sie führten Bluttransfusionen durch, um ihre Lebenszeit zu verlängern, arbeiteten an Raketenantrieben für interplanetarische Reisen und versuchten auf Albert Einsteins Relativitätstheorie aufbauend das Todesproblem mittels Zeitumkehrung zu lösen. Kurz, sie taten alles, um die radikale Endlichkeit des Menschen, also die unbedingte Beschränktheit unserer räumlichen wie zeitlichen Existenz, zu beenden. Linus Hauser beschreibt dies als „verdrängte Ohnmachtserfahrungen“ die „in Allmachtsphantasien“ ausgelebt werden. 1Linus Hauser: Kritik der neomythischen Vernunft. Band III: Die Fiktionen der Science auf dem Wege in das 21. Jahrhundert. Schöningh, Paderborn 2016
Der Mensch muss ein Kunstwerk werden
Der Umgang mit dem Tod war für die Biokosmist_innen ein zentrales Thema, in dem sie weitestgehend den Überlegungen des Philosophen Nikolai Fjodorowitsch Fjodorow folgten – ohne jedoch den orthodoxen Christen namentlich zu nennen. Fjodorow entwickelte seine Idee an der Metapher des Museums, in welchem Vergangenes rekonstruiert werde. Den Menschen begriff er dabei als Kunstwerk, welches sich selbst, nach Vollkommenheit strebend, neu schöpfen solle. Auch Biokosmist_innen und andere Genoss_innen träumten von einem Aufgehen des Schöpfergottes im Menschen, wenngleich dieses Menschenbild nicht unhinterfragt blieb. So kommentierte Leo Trotzki einen Vorschlag Stalins: „Wenn ich den Genossen Stalin richtig verstanden habe, schlägt er vor, die Reliquien des hl. Sergius von Radonesch und des hl. Sreaphim von Sarow durch die Reliquien von Wladimir Iljitsch zu ersetzen.“ 2Ilya Zbarski: Lenin und andere Leichen. Mein Leben im Schatten des Mausoleums. Klett-Cotta, Stuttgart 1999 Die Aufbewahrung und Erhaltung des Körpers, um die sich das Gerücht hartnäckig hielt, sie diene der Wiedererweckung des Revolutionsführers, wurde übrigens durch ein eigens gegründetes Institut zur Erforschung des Gehirns Lenins ergänzt.
Die menschenverachtende Konsequenz aus solcher als Wissenschaft getarneter Fortschrittsgläubigkeit lässt sich besonders gut bei Ziolkowski zeigen: „Aufgabe des Menschen sei es, […] alle unvollkommenen, nutzlosen und schädlichen Formen des Lebens – dazu zählt Ciolkovskij alle Tiere (er selbst war Vegetarier) und die meisten Pflanzen, aber auch physisch und moralisch defekte Menschen – als Leidensquelle und Opfer zu beseitigen.“ 3Boris Groys, Michael Hagemeister (Hg.): Die Neue Menscheit – Biopolitische Utopien in Russland zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2005 Aber nicht nur gedanklich wurden der Unsterblichkeit Opfer dargebracht, sondern auch ganz real kostete sie Menschenleben. So starb der Biokosmist Alexander Alexandrowitsch Bogdanow 1928 bei einer seiner Bluttransfusionen, mit welchen er Wissen und Lebenszeit solange zwischen Körpern austauschen wollte, bis diese zu einem Gesamtkörper verschmolzen seien.
Das Aufgehen in einem Kollektiv war Gegenstand vieler dystopischer Romane von denen Jewgeni Samjatin mit Wir 1920 einen der ersten verfasste. In dem Roman arbeitet der Held an der Konstruktion einer Rakete, welche die Revolution auf andere Planeten bringen soll, marschiert zur Entspannung mit Tausenden anderen in einer Reihe und vollzieht zur vorgeschriebenen Zeit den Geschlechtsakt bei geschlossenen Vorhängen. Ein schönes Bild dafür, wie der Glaube an Fortschritt, Kollektiv oder Revolution, das Leben des Menschen bestimmend, diesen zu Fragwürdigem treibt.