Ein Gespräch mit Samuel Salzborn über die Kritik an Wahlen als Element bürgerlicher Demokratien und die Perspektiven linker Politik in einer „postfaktischen“ Gesellschaft.
Samuel Salzborn ist Sozialwissenschaftler und Politologe und lehrt an der Uni Gießen. Hauptsächlich arbeitet er in den Bereichen Politische Theorie und Gesellschaftstheorie sowie Politische Soziologie und Demokratieforschung; gleichzeitig ist er einer der renommiertesten Antisemitismusforscher im deutschsprachigen Raum. Im Juni erschien sein Buch Angriff der Antidemokraten. Die völkische Rebellion der Neuen Rechten (Beltz Juventa).
MALMOE: Die Einführung freier Wahlen in nahezu allen europäischen Staaten nach 1989 galt als großer Erfolg. Doch funktionieren die demokratischen Partizipations- und Entscheidungsfindungsprozesse wirklich so, wie sie in den Verfassungen beschrieben werden? Welche Defizite lassen sich aus einer kritischen demokratietheoretischen Perspektive feststellen?
Samuel Salzborn: Leider haben Politikwissenschaft wie politische Öffentlichkeit weitgehend vergessen, dass es neben dem politischen System auch die politische Kultur gibt – genauer gesagt: die politischen Kulturen. Neben der normativen Ordnung, also dem, was die Rechtswissenschaft Verfassungsnorm nennt, gibt es eine subjektive Haltung der Bürger/innen zu dieser Ordnung, die diese stützen, konstruktiv verändern oder destruktiv zerstören kann – die Verfassungswirklichkeit bzw. die politische(n) Kultur(en). Mit diesem analytischen Instrumentarium wird meines Erachtens erst verstehbar, dass der Kern des Problems nicht die Norm, sondern die Wirklichkeit ist. Dazu gehört einerseits die teilweise defizitäre Erfüllung der Repräsentationsfunktionen durch politische Parteien, dazu gehört aber mindestens gleichermaßen die Unwilligkeit vieler Bürgerinnen und Bürger, überhaupt rational verstehen zu wollen, wie ihr politisches System funktioniert und dies dann auch in politisches Handeln umzusetzen. Ein Großteil der Debatten über direkte Demokratie beispielsweise basiert auf einer Unwilligkeit bzw. Unfähigkeit zur politisch basierten Empathiebildung. Dies manifestiert sich beispielsweise darin, dass nicht unbeträchtliche Teile der Gesellschaft glauben, ihr Partikularinteresse müsste direkt und unvermittelt durchgesetzt werden. Insofern wäre es gerade für eine kritische Demokratietheorie dringend geboten, nicht nur Strukturdefizite in den Blick zu nehmen, sondern mehr noch zu begreifen, dass ein nicht geringer Teil der aktuellen Kritik an der Demokratie faktisch aus einer antidemokratischen Konstellation in der politischen Kultur heraus entsteht.
Zuletzt hatte es bei vielen Wahlen den Anschein, als könnten sich die WählerInnen letzten Endes nur zwischen zwei Fronten entscheiden, einem bürgerlich-liberalen Lager oder einem rechtspopulistischen bzw. rechtsextremen Lager. Was sagt so eine Frontenbildung über den Zustand einer Demokratie aus?
Man kann seit spätestens Mitte der 1990er Jahre in demokratischen Systemen, insbesondere in Westeuropa, eine Tendenz zu einer gefühlten „Mitte“ beobachten – deshalb gefühlt, weil es sich bei der „Mitte“ nicht um eine sozialstrukturelle Kategorie handelt, sondern um eine Sehnsucht: eine Sehnsucht nach Ausgewogenheit, Konfliktfreiheit und Harmonie. Diese Sehnsucht hat zwei Probleme: einerseits richtet sie sich diametral gegen den Kern von Demokratie, die auf einer pluralistischen Gesellschaft und einer konfliktorientierten Politik basiert; andererseits ist in einem solchen Denken strukturell eine Vergemeinschaftungstendenz angelegt, die sich eben gegen die heterogene Gesellschaft wendet und identitäre und homogenisierende Politikangebote mobilisiert. Durch den schleichenden Prozess, in dem einerseits sozioökonomische Konflikte real umfangreicher und intensiver geworden sind, zugleich die Sehnsucht nach Konfliktfreiheit aber zugenommen hat, polarisieren sich Wahlkämpfe in Zeiten, in denen die Gefahr einer Zerstörung von Demokratie durch rechtsextreme Parteien real geworden ist. Die Ursache für diese dichotome Polarisierung liegt allerdings, so paradox es klingen mag, darin, dass man seit Jahrzehnten nicht mehr realistisch polarisiert hat – weil es aufgrund der Sehnsucht nach der konfliktbefreiten Mitte an der demokratischen Ausagierung von Konflikten mangelt, kommt es zu einer Polarisierung, bei der tatsächlich die Demokratie auf dem Spiel steht.
AnhängerInnen des Postdemokratie-Konzepts zufolge ist die Politik im 21. Jahrhundert weitestgehend reine Inszenierung. Wahlen wären nur mehr Formsache, WählerInnen würden generell weniger partizipieren und letztlich hätten sie ja auch keinen entscheidenden Einfluss auf das politische Geschehen. Wie bewerten Sie diese These – gerade hinsichtlich der Wahlen der letzten Monate?
Es gibt Momente in den postdemokratischen Analysen, die mir plausibel erscheinen – etwa wenn es um die Betonung der ökonomischen Macht von Medienunternehmen geht und die durch die mediale Beschleunigung generierten antiaufklärerischen Effekte, bei denen Politik zunehmend mehr auf darstellende und präsentierende Elemente reduziert wird, die den Bürger zum Verbraucher degradieren. Zugleich haben manche Postdemokratie-Kritiken aber selbst auch einen Hang zum populistischen Argument, wenn etwa aus der – richtigen – Erkenntnis, dass die bürgerliche Gesellschaft auf materiellen Widersprüchen basiert, die nicht diskursiv verkleistert werden können, die eher naive Konsequenz gezogen wird, dass die Mobilisierung der Bürgerinnen und Bürger das Erfolgsrezept sei. Die moderne Demokratie ist, nicht nur aus historischen, sondern aus systematischen Gründen eine repräsentative Demokratie – es mag hier und da direktdemokratische Einzelelemente geben, die Strukturdefizite ausgleichen können, generell liegt der Garant einer gleichberechtigten und gleichen Partizipation aber im Modus der Repräsentation. Und darum scheint es mir doch zu gehen: das Argument der Gleichheit – nur wenn alle gleichermaßen die rechtlichen wie sozialen Möglichkeiten haben, zu partizipieren, ist der demokratische Anspruch im Kern verwirklicht. Wer sich dann aber auf das Glatteis der Versprechen postdemokratischer Institutionenkritik begibt, verkennt, dass das Problem der politischen Ungleichheit gar nicht politisch, sondern ökonomisch generiert wird – und genau hier ist auch der Hebel, wie auch die Wahrheit der Postdemokratie-Kritik: die Demokratie ist ein Ordnungssystem, das Macht einhegen will, die kapitalistische Ökonomie setzt sie frei und generiert damit letztlich die Krisen, derer sich die Demokratie erwehren muss, obgleich sie eigentlich Krisen des Kapitalismus sind.
Nun war es beispielsweise in Österreich so, dass große Teile der politischen Linken zuletzt für einen bürgerlich-liberalen Kandidaten eintraten, um größeres Übel abzuwehren. Wie lässt sich die Ambivalenz der Strategie einer möglichst breiten „Front gegen den Faschismus“ auf Dauer aushalten? Droht nicht am Ende eine Aufgabe der eigenen – linken – Position und die völlige Eingliederung in einen bürgerlich-liberalen Konsens?
Es gibt historische Momente, in denen kulminieren politische Konflikte in genau jenem Dualismus – und in diesen Momenten ist es in der Tat unverzichtbar, das antifaschistische Moment als das zentrale zu begreifen. Würde man das nämlich nicht, dann würde die völkische Rebellion in dem Moment, in dem sie die Macht dazu hätte, die Möglichkeiten, miteinander uneins sein zu können und zu dürfen, eliminieren. Man darf sich nichts vormachen: die rechtsextremen Parteien, die so oft und so falsch als „Populisten“ verniedlicht werden, nur weil sie im Unterschied zu offen neonazistischen Kräften die Demokratie nicht von der Straße, sondern aus den Parlamenten heraus zerstören wollen, hassen nicht nur Freiheit, Gleichheit und Solidarität, sie würden auch – wenn man sie ließe – alles dafür tun, um die Demokratie zu zerstören. Und da muss man dann doch gar nicht so polemisch fragen: ist es nicht besser, einen bürgerlich-liberalen Konsens mitzutragen, als tot zu sein?
Bedeutet dies nicht gleichzeitig, dass Wahlen doch mehr Bedeutung haben, als ihnen vom postdemokratischen Ansatz zugesprochen wird?
Gerade das österreichische Beispiel der letzten Bundespräsidentschaftswahl zeigt doch, dass Wahlen keine Inszenierung sind, sondern am Ende wirklich jede Stimme zählt. Wer das negiert, übersieht vielleicht, dass akademische Debatten eben an der Stelle, an der man sie mit der Wirklichkeit konfrontiert, nicht mehr ein Spiel der Interpretationen sind, sondern es um reale Geltungsansprüche geht.
Welche grundsätzlichen Kritikpunkte an und Alternativen zu den gegebenen Partizipationsmöglichkeiten im bürgerlichen Staat könnte gerade die Linke wieder stärker betonen?
Der zentrale Mangel besteht meines Erachtens in einer Abkehr vom Universalismus – partikulare Politikkonzepte, wie sie zahlreiche Varianten der postmodernen Ideologie propagieren, laufen letztlich nicht nur strukturell auf eine Minimierung des Freiheitsversprechens hinaus, das dann eben immer nur kulturalistisch eingeschränkt Geltung beanspruchen kann, sondern adaptieren faktisch Momente identitärer Ideologie – und die ist objektiv reaktionär – egal, ob man sie subjektiv nicht so verstehen möchte. Insofern sollten Kritikansätze mehr denn je darauf überprüft werden, inwiefern sie postmodernem Relativismus auf den Leim gehen, was dann eben realpolitisch zu der Einsicht führt, dass eine generelle Staatskritik falsch ist und dass es gerade der moderne Nationalstaat ist, in dem Potenziale von Freiheit und Gleichheit verwirklicht werden können. Der Einwand, dass im Nationalstaat auch gegenteilige Ziele umgesetzt werden können, ist keineswegs falsch, aber gerade in dieser Dialektik muss man wieder deutlich klarer erkennen, dass alle Utopien jenseits des Staates bisher immer nur einer weiteren Verrohung und Brutalisierung den Weg geebnet haben. Also vielleicht: wieder einmal etwas mehr Staatstheorie wagen?
Das klingt nach einer affirmativen Haltung zum modernen Nationalstaat, die viele so nicht mittragen würden, weil sie dem Nationalstaat die Verwirklichung von allgemeiner Freiheit und Gleichheit nicht zutrauen?
Es ist mehr ein Plädoyer, wieder die Ambivalenzen von Nationalstaatlichkeit zu begreifen – wirft man einen Blick auf die ideengeschichtlichen und realhistorischen Kontexte der Etablierung von Souveränität, dann sieht man, dass diese substanziell stets nur auf einem Tauschverhältnis basierte. Anders gesagt: sie wird dadurch legitimiert, dass sie Freiheitsrechte zu garantieren in der Lage ist. Nicht umsonst hat beispielsweise Franz L. Neumann darauf hingewiesen, dass der Nationalsozialismus als – so seine Wortwahl – „Unstaat“ mit seiner Negation von Freiheit auch die Souveränität zerstört hat. Diese Ambivalenz wird heute allzu oft übersehen, wenn man fälschlicherweise glaubt, Souveränität hätte nicht zwei Seiten, sondern würde ausschließlich in Gewaltausübung bestehen. Missversteht man die Dialektik von Freiheit und Souveränität derart, dann geht man ideengeschichtlich den falschen Schritt mit Carl Schmitt, der danach trachtete, Souveränität allein in Gewalt zu übersetzen und damit die Freiheit zu zerstören. Der genauere historische und ideengeschichtliche Blick kann aber zeigen, dass Souveränität ohne Freiheit illegitim ist – aber eben zugleich Freiheit ohne Souveränität auch ungarantierbar.