MALMOE

Solidarität heißt, politischen ­Antirassismus zu stärken

Interview mit Can Gülcü über die aktuelle Lage in der Türkei und in Österreich

Can Gülcü ist Kulturschaffender und linker Aktivist, war Co-Leiter der WIENWOCHE und der Shedhalle Zürich, lehrt an der Universität Graz und ist Vorstandsmitglied von SOS Mitmensch. Im Gespräch mit MALMOE beschreibt er, wie sich die Situation in der Türkei und die transnationale Polit-Situation in Österreich seit dem Putschversuch 2016 verändert haben und thematisiert, dass dies mehr mit politischen und ökonomischen Voraussetzungen und autoritären Herrschaftsstrategien zu tun hat, als mit religiösen und kulturellen Identitäten.

MALMOE: In der Türkei herrscht seit dem gescheiterten Putschversuch Ausnahmezustand – was heißt das für linke Aktivist_innen, Journalist_innen und Politiker_innen und bewegt sich die Türkei nach dem Referendum in Richtung Diktatur?

Can Gülcü: Ausnahmezustand bedeutet, dass Bürger_innenrechte außer Kraft gesetzt sind. Vielen, die jetzt im Gefängnis sitzen, wird vorgeworfen, am Putsch beteiligt gewesen zu sein, aber die Verfolgung trifft natürlich auch liberale und linke Regimekritiker_innen. Viele Oppositionelle wurden wegen „Volksaufwiegelung“ oder aufgrund des Vorwurfs „Teil einer terroristischen Vereinigung“ zu sein eingesperrt, Medien wurden ausgeschaltet und es sind derzeit weit über 150 Journalist_innen in Haft. Der Ausnahmezustand ermöglicht es dabei, die Leute ohne Anklage auf unbegrenzte Zeit einzusperren. Ob das jetzt nach dem Referendum noch mehr in Richtung Diktatur abdriftet, ist schwer zu sagen, allerdings hat das Regime schon länger faschistoide Züge. Es könnte zwar sein, dass sich die gesellschaftspolitische Lage beruhigt, allerdings macht die AKP weiter wie gehabt. Insofern stellt sich eher die Frage, ob die oppositionellen Kräfte bei der anstehenden Präsidentschaftswahl etwas entgegen den autoritären Kurs setzen können.

Du warst bei den Gezi-Protesten 2013 von hier aus in der Soli-Arbeit aktiv – was hat sich seit damals aus deiner Sicht verändert?

Die Gezi-Proteste waren ein kurzer zivilgesellschaftlicher Aufbruch; da kamen viele bis dahin nicht politisierte urbane, liberale Menschen mit unterschiedlichsten linken Gruppierungen zusammen und haben echt was angestoßen. Allerdings kam gleich danach die Enttäuschung, dass sich nichts ändert – und dann vor allem die politische Repression. Daher haben die Leute jetzt viel mehr Angst, was auch der Hauptgrund für die ausbleibenden zivilgesellschaftlichen Proteste nach dem Referendum ist.

Im Februar hast du in Wien einen Solidaritäts-Autorkorso für den inhaftierten Journalisten Deniz Yücel mit-organisiert – welche Soli-Aktionen gibt es noch?

Es gab einen Soli-Abend im Wiener Schauspielhaus mit Beteiligung vieler Akteur_innen, die inhaftiert waren oder sind, Vor kurzem war ich bei einer Lesung für Deniz in München. Es gibt weiterhin Aktionen in Deutschland und hoffentlich auch bald wieder in Österreich. Das ist die symbolische Ebene, die wichtig ist. Gleichzeitig geht es aber auch um konkrete Unterstützung von temporär Exilierten. Aus der Türkei in die EU zu migrieren ist generell sehr schwer. Nochmal verstärkt erlebe ich das aktuell bei Freund_innen und Genoss_innen, die z. B. keinen Asylantrag stellen wollen, weil sie dann für längere Zeit nicht in die Türkei zurückkehren könnten. Insofern geht es darum, sie sofort und möglichst unbürokratisch zu unterstützen. Als linke Journalist_innen, Wissensarbeiter_innen oder Künstler_innen sollten wir uns also fragen: welche Institutionen, Projekte oder Stipendien gibt es in unserem Umfeld, wo potenziell angedockt werden könnte?

Die Türkei ist – vielleicht seit Atatürk schon – ein stark gespaltenes Land, wie würdest du die gesellschaftpolitischen Gräben beschreiben? Stehen hier tatsächlich in erster Linie Säkularismus bzw. Laizismus gegen die Religion?

Ich denke nicht, dass die Gräben ausschließlich auf der Ebene „Säkulare gegen Religiöse bzw. Islamist_innen“ verlaufen, sondern vielmehr auf Klassenebene. Die Türkei ist – wie jedes andere Land auch – in erster Linie ökonomisch gespalten; sprich: eine Klassengesellschaft. Die Erfolgsgeschichte des politischen Islam bzw. der AKP hat daher aus meiner Sicht viel mit dem Putsch 1980 zu tun, der geopolitisch betrachtet im damaligen Antagonismus „Westen versus Kommunismus“ zu verorten ist, aber in Bezug auf die Türkei – also regionalpolitisch betrachtet – eine (Neo-)Liberalisierungswelle in Gang setzte, die die Mittel- und Unterschicht abgehängt hat. Gleichzeitig wurden damals Gewerkschaften entmachtet, zivilgesellschaftliche Institutionen abgeschafft und die sogenannte „türkisch-islamische Synthese“ als „Leitkultur“ des Staates ausgerufen. So driftete die Gesellschaft sukzessive in Richtung Autoritarismus ab, ohne dass sich ein gesellschaftspolitischer Gegenpol entwickeln konnte – und dieses Vakuum wusste die AKP diskursiv und politisch zu füllen. Natürlich spielte dabei auch die Verankerung der AKP im politischen Islam eine Rolle, da die religiös untermauerte, stark in den Kommunen verankerte Wohlfahrtspolitik viele der ökonomisch Abgehängten mit dem Versprechen nach „sozialer Gerechtigkeit“ aufgefangen hat.

Aus linker Perspektive ist der Unterschied zwischen Wohlfahrtspolitik und sozialstaatlicher Umverteilungspolitik allerdings gravierend – kannst du das kurz ausführen?

Viele sind der Meinung, dass die AKP soziale Politik macht, aber im Grunde macht sie „Wohlfahrtsstaatspolitik“. Sie verteilt als regierende Partei Geld, quasi als Almosen, was ja nicht zuletzt auch religiöses Gebot ist. Sozialstaatliche Politik hingegen hieße, gesetzlich festgeschrieben den gesellschaftlichen Wohlstand umzuverteilen, denn nur so wird das System gerechter. Auch die Wirtschaftspolitik der AKP baute auf liberalen Prämissen auf. Der Umschwung von einer export- zu einer binnenmarktorientieren Wirtschaft basierte stark auf der Vergabe günstiger Haushaltskredite, durch die sich auch die untere Mittelschicht Konsumgüter leisten konnte. Seit der letzten Wirtschaftskrise sind diese Kredite allerdings nicht mehr leistbar – aber dafür wird umso mehr auf der symbolischen bzw. diskursiven Ebene gegen „innere“ und „äußere Feinde“ gehetzt, sprich: gegen die Kurd_innen, die EU, die USA, „das Finanzkapital“, etc. …

Erdoğan kommt ja ursprünglich aus der Milli Görüş-Bewegung von Necmettin Erbakan – es gab zwar die Abspaltung, aber ist die politisch ernst zu nehmen?

Die AKP unterschied sich in ihrer Anfangszeit in vielen weltanschaulichen und ökonomischen Fragen von Milli Görüş und präsentierte sich als neue Bewegung der politischen Mitte, in der unterschiedliche Akteur_innen Platz hatten – allerdings hat sie sich in den letzten Jahren von einer Bündnis-Partei zu einer Führer-Partei entwickelt. Aber nochmal: ich fände es wichtig, sich auch abseits vom hegemonialen Diskurs, der in erster Linie den politischen Islam bzw. Islamismus am Schirm hat, mit den konkreten Polit-Gegebenheiten zu beschäftigen. Damit will ich jetzt nicht sagen, dass Islamismus in der AKP keine Rolle spielt oder nicht politisch bekämpft werden soll – aber die Kombination wertkonservativ, nationalistisch und gleichzeitig neoliberal ist keine ausschließliche Eigenschaft der AKP und vor allem ebnete der Putsch 1980 den Weg in Richtung Autoritarismus. Diese historische Entwicklung sollte aus linker Perspektive wieder mehr politisch und weniger kulturalistisch thematisiert werden. Nicht zuletzt, weil wir es hierzulande – bei allen Unterschieden – mit ähnlichen politischen Auseinandersetzungen zu tun haben.

Sind die wachsenden Spannungen zwischen Erdoğan-Unterstützer_innen und Gegner_innen auch hierzulande zu bemerken?

Ja, politische Spannungen in Ursprungsländern spiegeln sich immer in der so genannten „Diaspora“ wider. Bei Communities mit türkischem Hintergrund hat sich das unter anderem durch die Abwendung von Teilen dieser Communities von der Mehrheitsgesellschaft und ihre Suche nach einer neuen, alten „Identität“ aufgrund des Gefühls, diskriminiert und abgehängt zu sein, verändert. In diese Stimmungslage hat die AKP im Gegensatz zu früheren türkischen Regierungen viel stärker „investiert“ und gab Migrant_innen mit türkischem Hintergrund so scheinbar die Anerkennung, die sie hier vermissten. Interessant ist allerdings, wie viel in aktuellen Debatten über die vergleichsweise unbedeutende Lobbyorganisation UETD1Union Europäisch-Türkischer Demokraten gesprochen wird, und wie wenig über die eigentlichen Orte, wo solche Prozesse in konservativen muslimischen Milieus organisiert werden: nämlich in Moscheen. Das heißt nicht, dass Religiosität oder in die Moschee gehen per se was Schlechtes sind, sondern dass von der Türkei kontrollierte Moscheeverbände wie die ATIB2Türkisch-islamische Union für kulturelle und soziale Zusammenarbeit in Österreich Avusturya Türkiye İslam Birliği oder DITIB3Türkisch Islamische Union der Anstalt für Religion (= das deutsche Pendant zum ATIB) eine wesentliche Rolle dabei spielten, das Gefühl des Diskriminiert- und Abgehängt-Seins nationalistisch und religiös aufzuladen. Gleichzeitig spiegelt sich aber auch die generelle Kulturalisierung wider: wir beziehen uns heute ja sogar in der Linken viel seltener auf einen politischen Antirassismus , sprich: auf den Kampf um politische und soziale Rechte, gegen ökonomische Ungleichheit etc., sondern reden eher über die Kultur- und Religionsfrage bzw. über „Identitäten“ – und das ist natürlich auch innerhalb Communities mit türkischem Hintergrund spürbar.

Nachdem beim Referendum 72 % der zur Wahl gegangenen Austro-Türk_innen pro Erdoğan stimmten, wurde „die türkische Community“ medial als „integrations-“ und „demokratieunfähig“ gelabelt – was würdest du solchen kulturalistischen bzw. antimuslimisch rassistischen Zuschreibungen entgegnen?

Erstens ist die Gruppe der so genannten „Austro-Türk_innen“, die nicht zur Wahl gegangen sind, viel größer als die Gruppe derjenigen, die gewählt haben. Zweitens wurde das eigentliche politische Problem, also die Frage, warum die Leute Erdoğan wählen, vom rassistischen Diskurs verdrängt. Zum einen im Sinne von „Wenn die Türken nicht so sind, wie ‚wir‘ sie haben wollen, gehören sie weg“ und zum anderen im Zuge der Diskussionen über so genannte „unrechtmäßige Doppelstaatsbürger_innenschaften“. Und drittens ist es leider ganz allgemein ein politischer Jammer – 46 % Hofer-Stimmen letzten Dezember sind ja auch schwer zu verdauen. Damit will ich sagen: der Rechtsruck ist ein gesamtgesellschaftliches Problem, daher würde ich die Sache auch nicht in erster Linie aus einer kulturellen Perspektive angehen, sondern aus einer politischen und ökonomischen.