Kaum ein Buch wird aktuell so viel diskutiert wie der Sammelband Beißreflexe. Kritik an queerem Aktivismus, autoritären Sehnsüchten, Sprechverboten, der vor seiner dritten Auflage steht. Richtige und wichtige Fragen führen aber nicht zwangsläufig zu guten Antworten. Eine Rezension.
Eine recht spezielle Sorte queeren Aktivismus macht seit einiger Zeit von sich reden. Ich habe dieses Phänomen an anderer Stelle als Zehenspitzen-Feminismus bezeichnet, dem es weniger darum geht, laut und sichtbar zu sein, als darum, niemandem auf die Füße zu steigen. Gemeint ist eine spezielle Melange von Betroffenheitsfeminismus und einem Verständnis von Critical Whiteness, das sich ausschließlich an der Frage nach Privilegien abarbeitet, gepaart mit dem Wunsch, sich in watteweichen, silberglitzernden Szenewohnzimmern vor der Welt da draußen verstecken zu können. Dass die Irritation über diese Entwicklungen sich nicht nur in nächtlichen Beisl-Diskussionen niederschlägt, sondern auch zu neuen Publikationen führt, ist wenig verwunderlich. So hitzig wie die Diskussionen, so gespannt wurde also auch das erste Buch erwartet, das eine fundierte Kritik am Zehenspitzen-Feminismus erwarten ließ. Der von Patsy l‘Amour laLove herausgegebene Sammelband Beißreflexe. Kritik an queerem Aktivismus, autoritären Sehnsüchten, Sprechverboten ist 2017 im Querverlag erschienen. Ziel des Buches ist im Prinzip eine Rückbesinnung auf Queer als politischen Kampfbegriff, mit dem einer heteronormen Gesellschaft entgegengetreten wird. Nicht umsonst hat sich Queer vom Schimpfwort zur selbstbewussten Selbstbezeichnung für all jene gewandelt, die von dieser stinknormalen Gesellschaft als pervers gelabelt werden – weil sie z.B. schwul, lesbisch, trans oder auch BDSM-praktizierend sind. Patsy l’Amour laLove und andere Autorinnen treten nun an, dieses Selbstbewusstsein wieder in den Vordergrund zu rücken. Weg von einer „Politik der Bauchschmerzen“, die Buße und Strafe in den Mittelpunkt stellt, soll Queer wieder an die Notwendigkeit erinnern, den gesellschaftlich allgegenwärtigen Hass mit einer perversen Entgegnung zu bekämpfen. Die „Beißreflexe“ argumentieren also nicht gegen queere Politiken, sondern wollen diese wieder zu ihren Anfängen zurückführen.
Der Grundidee der „Beißreflexe“, queeren Aktivismus mit seinen politischen Wurzeln zu konfrontieren, kann ich einiges abgewinnen. Das Problem ist nur, dass dieses Ziel insofern verfehlt wird, als dass die Wurzeln queeren Aktivismus sehr wohl in einer radikalen Kritik des Bestehenden liegen – schließlich sollte es letztlich nicht nur darum gehen, sich für die Möglichkeit alternativer Lebensentwürfe stark zu machen, sondern darum, damit auch das gesamte heteronormative System in Frage zu stellen. Und genau daran scheitern die „Beißreflexe“. Statt ihre Kritik an aktuellen queeren Zehenspitzen-Politiken mit einer radikalen queeren Gesellschaftskritik zu unterlegen, affirmieren die „Beißreflexe“ lieber bestehende Verhältnisse – und nehmen ihrer Kritik damit leider auch die Wirksamkeit. Durchaus amüsant zu lesen, verfehlt die Polemik dann letztlich doch das Ziel, wenn nicht danach gefragt wird, was denn queere Politiken auch heute noch zu einer Notwendigkeit macht. Auch wenn sich die Autorinnen darüber einig sind, dass die „Zeiten hässlich sind“ und es „um viel geht“, hätte diese spezielle Hässlichkeit der Zeiten eben doch einer genaueren Betrachtung unterzogen werden müssen.
So scheint etwa im Artikel über Definitionsmacht der Glaube an den bürgerlichen Rechtsstaat weitgehend ungebrochen. Aber nur wer eine fundierte Kritik am bürgerlichen Rechtsstaat und seinem Umgang mit sexualisierter Gewalt übt, kann nachvollziehen, warum es dringend notwendig war – und ist –, alternative Umgangsweisen im Bezug auf Übergriffe zu entwickeln. Und nur wer also versteht, warum wir bei sexueller Gewalt kaum auf den bürgerlichen Rechtsstaat zurückgreifen können, kann eine ebenso treffsichere – und wahrscheinlich auch ebenso notwendige – Kritik an Konzepten wie der Definitionsmacht formulieren. Wer sich also primär davor fürchtet, wie abgründig es werden kann, wenn „Werte und Grenzen der bürgerlichen Gesellschaft vollständig negiert werden“, kann nur wenig überzeugend danach fragen, wie ein alternativer Umgang mit sexueller Gewalt aussehen könnte.
Ähnlich verhält es sich auch bei der Frage nach Islamkritik. Nur wem klar ist, dass auch das Münchner Oktoberfest eine Hölle für all jene ist, die keine Hand im Ausschnitt haben wollen, kann wiederum überzeugend danach fragen, was für eine Rolle der Islam bei den Übergriffen der Silvesternacht in Köln gespielt hat. Und ohne auch nur einen Hauch von Sympathie für die Burka aufzubringen, sollte doch eine Analyse möglich sein, die Burka-Verbote als den populistischen Rassismus erkennt, der sie sind. Schade ist das auch, weil damit die teilweise durchaus treffende Kritik am aktuellen Umgang mit Religion, Religionskritik und Islam in den Hintergrund gerät. Stattdessen stolpern die „Beißreflexe“ dann doch zu oft in die Falle, primär Bestehendes zu verteidigen, um Schlimmeres zu verhindern – und das ist dann leider weniger spannend. Wer allerdings nicht nach einer Formulierung queerer Gesellschaftskritik sucht, sondern nur dem eigenen Frust über aktuelle politische Irrwege Nahrung geben will, wird sich von den „Beißreflexen“ durchaus gut unterhalten fühlen. Auch hier gilt – wäre es nicht so schrecklich, wäre es ja ganz lustig.
Patsy l’Amour laLove (Hg.): „Beißreflexe. Kritik an queerem Aktivismus, autoritären Sehnsüchten, Sprechverboten“, Querverlag, Berlin 2017