MALMOE

„Das Rezept für den Populismus haben die EU-Institutionen selbst verfasst“

Ein Gespräch mit Mark Blyth

Fleißig rieb sich die MALMOE-Redaktion die Hände. Wieder war ein internationaler „Theorie-Star“ bereit, mit uns über die aktuelle Gestalt der Krise zu reden. Mit dem gebürtigen Schotten Mark Blyth würde sich sicherlich auch der Brexit in die Misere einer katastrophalen europäischen Wirtschaftspolitik einordnen lassen. Blyth arbeitet neben seinem Job als Ivy-League-Professor auch als Berater und ist ein gewiefter Verhandler. Er wollte im Voraus die Anzahl unserer Fragen und den Umfang seiner Antworten wissen. Trickreich stellte MALMOE deswegen die Fragen besonders ausführlich, um möglichst viele jener Dinge erwähnt zu haben, die Blyth sonst gerne bei seinen Ausritten in die Ideengeschichte darzulegen pflegt. Unser Interview geriet daher „anspruchsvoll“ und kann nicht unbedingt voraussetzungslos genossen werden. Deswegen hier als LeserInnen-Service ein kleines Glossar: Michał Kalecki war eine Art polnischer Gegen-Keynes, der ein Konzept für die Wirtschaft hinter dem Eisernen Vorhang entwickelt hatte, das nie verwirklicht wurde. Tony Benn war der Gegenspieler von Maggie Thatcher aus dem Team Labour, der gerne ein sozialeres und gerechteres UK gestaltet hätte. Die Eiserne Lady hatte leider den Weltgeist auf ihrer Seite. Die chinesischen Provinzfürsten bringen immer mehr Geld außer Landes, seit die Gesetze gegen Korruption verschärft wurden. Es zeigt sich hier die altbekannte Ungerechtigkeit, dass am Ende immer die „Bank“ gewinnt. Läuft der Weltladen wirtschaftlich rund, investieren alle in den USA. Während der Krise wird das gestohlene Geld in die Staaten geschleust. Was Blyth beim Ausmalen des Tableaus des Schreckens voraussetzt, ist der Gedanke einer „Verbilligung des Geldes“. Feuer („zu viel Geld“) wird mit Feuer („noch mehr Geld“) bekämpft. Die Staaten erlaubten mittels geringverzinsten Geldes die Erhöhung der „Leverage“, denn bei gigantischen Summen ergeben auch geringe Zinsdifferenzen noch große Einnahmen.

MALMOE: Beginnen wir einmal ganz „vorne“. Bereits in den 1940er-Jahren war Michał Kalecki in der Lage, die Entwicklung der 1970er vorherzusagen: Das Ziel Vollbeschäftigung führt zu höheren Löhnen, da Streiks wirksam sind und es keine „billigen Arbeitskräfte“ gibt. Die hohen Löhne untergraben die Profite und die Disziplinierungsmöglichkeiten der ArbeiterInnen. Profite lassen sich nur mehr mit höheren Preisen erreichen, diese bewirken Inflation, die wiederum die Investitionsanreize verringert. Die Siebziger waren, wie Sie es nennen, ein „Schuldner-Paradies“. Die Kredite schmolzen wie Eis im Sonnenschein aufgrund der hohen Inflation und die Investoren bezahlten dafür mittels ihrer schrumpfenden Vermögen. Keine Frage, die Vermögenden brauchten Maggie Thatcher und Ronald Reagan, um die Sache in Ordnung zu bringen. Unter deren „Lösung“, einer Art „Gläubiger-Paradies“, leiden wir bis heute durch die hohe Ungleichheit und die Millionen überschuldeter Privathaushalte. Wäre in den Siebzigern ein anderes Szenario denkbar gewesen, das die Inflationsprobleme anders gelöst hätte? Wäre ein Premierminister Tony Benn in der Lage gewesen, in Großbritannien einen anderen Weg einzuschlagen?

Mark Blyth: Diese Frage ist nicht nur riesig, sie ist auch unbeantwortbar, da sie im Kern kontrafaktisch ist. Und kontrafaktische Auffassungen sind wie Tagträume. Wir können alle einen haben. Nur, welcher wäre der richtige? Versuchen wir das Problem deswegen etwas anders anzugehen. Nehmen wir einmal an, Kalecki habe Recht in Bezug auf die ökonomische Weltlage der 1940er- bis 1970er-Jahre und ihr Scheitern lag in der Inflationskrise die sie produziert hat. Können wir uns nun einen „Anti-Kalecki“ vorstellen, der uns in eine bessere Zukunft geführt hätte? Meine Antwort ist: Nein. Wer innerhalb eines Kalecki’schen Rahmens beginnt, muss auch innerhalb dieser Rahmenvorrausetzungen enden, um kohärent zu bleiben. Nur, während Kalecki in der Lage ist, Inflation zu erklären und eine Hochzinspolitik, um diese zu zähmen, kann er dann aber auch gleichzeitig den Sturz der Inflation, der Zinsraten, der Löhne und der konsequenten Rückkehr zum Kapital gegenüber der Arbeit erklären, die wir heute erleben? Nein. Etwas ist anders: die Globalisierung. Sowohl des Finanz- als auch des Arbeitsmarktes. Sobald der Finanzwirtschaft erlaubt wird, eine Zinsdifferenz auszukosten zwischen den höchsten je festgehaltenen Realzinssätzen der Geschichte außerhalb einer Finanzkrise (1981/2 erreichtet der US-Zehnjahres-Schnitt 15,81 %) und dem gleichzeitigen Absinken der Kosten der Fremdkapitalaufnahme gegen beinahe null (was zu den hohen Privatschulden führte), wird eine ungeheure Instabilität in das System gebracht – und zwar auf globaler Ebene. Sobald einmal globalisierte Arbeitsmärkte entstanden sind, gehen die Möglichkeiten erfolgreicher Streiks für ArbeiterInnen verloren. Ein Blick auf die weltweite Entwicklung der Streikrate belegt dies. Diese ging bis 1975 exponentiell nach oben und sank dann bis heute auf nahezu null. Warum? Die inländische Arbeit hat keinen Einfluss mehr. Jede/r deutsche GewerkschaftsvertreterIn weiß, dass die Globalisierung 60 km östlich der Elbe beginnt, also brauch nach Lohnsteigerung nicht mehr gefragt zu werden. Werden dieses zwei Dinge kombiniert und auch noch die Weltkapitalmärkte zusammengeschlossen, dann kann den Zinsraten zugeschaut werden, wie sie auf null herabsinken. Am Ende ist das Kapital ungeheuer billig und Arbeit muss – will sie überleben – noch billiger sein. Hätte Tony Benn dies verhindern können? Genauso kann gefragt werden „Kann es Sozialismus in einem Land geben, wenn die anderen sich weigern, mitzuspielen?“ Vermutlich nicht. Die Kreditgeber erlangten ihre Macht, weil das vorherige System nicht mehr in der Lage war, Profite zu erhalten. Ohne eine ausgleichende Macht ist alles, was uns heute bleibt, der geringe Kapitalertrag jenes superbilligen Kapitals, das alle Erträge aus der Arbeit verkümmern lässt. Ich bin mir ziemlich sicher, dass nicht einmal Tony Benn das verhindert hätte.

Das deutsche Nachrichtenmagazin Der Spiegel führte eine Kampagne gegen den neuen französischen Präsidenten Macron mit dem Tenor „Er will uns (Deutsche) zahlen lassen für Europa“. Sie sagten einmal, Sie seien Pro-Europa aber Anti-Euro, weil eine gemeinsame Währung eine Angleichung für einige Länder verunmöglicht, ohne Defizite zu machen – die wiederum innerhalb der EU verboten sind. Unglaublicherweise erkennen viele Politiker in Europa nicht an, dass gewisse Probleme innerhalb des Austeritäts-Regimes unlösbar sind. Glauben Sie, dass das Bewusstsein innerhalb der EU-Institutionen wächst, dass ein deutscher Überschuss Italien und Frankreich zum Schrumpfen ihrer Wirtschaften zwingt?

Ende 2016 besuchte der Chefökonom der Europäischen Kommission, Marco Buti, die Brown University und hielt eine Rede über die Beschäftigungs- und Wachstumskrise innerhalb der EU, die Gefahr des Populismus und die Notwendigkeit von etwas, das er „Strukturreformen 2.0“ nannte. Darunter verstand er weniger den Versuch, die Nachfrage abzuwürgen, als das Abwürgen der privaten Rentenökonomie und Maßnahmen dazu, die Leute endlich zum Steuern zahlen zu bringen. Großartig. Ich bin dabei. Sechs Monate lauwarmen Wachstums später und einiger Wahlen, bei denen die europäische Öffentlichkeit nicht die Faschisten gewählt hat, und schon schimpfen wieder alle mit den Spaniern und Franzosen wegen derer exzessiver Defizite. So viel zu diesem neuen Ansatz. Unterm Schlussstrich steht folgendes: Deutschland und die Länder seiner Zulieferungskette (östlich der Elbe bis ans Ende von Rumänien) erzeugen einen Überschuss an Exporten gegenüber dem Rest der Welt in der Höhe von etwa 9 % des deutschen BIP. Das ist nicht so, weil diese Länder tolle Sachen herstellen würden, die es nirgendwo sonst gibt (die übliche Erklärung), sondern weil sich exzessive Rücklagen in Deutschland anhäuften, die nun Deutschland verlassen, als ein Kapitalausfluss, der die inländische Nachfrage hemmt und das Land abhängig macht von exportbedingtem Wachstum. Indem Nachfrage aus dem Rest der Welt importiert wird, können Deutschland und die Länder seiner Zulieferungskette wachsen. Allerdings, innerhalb einer Währung gilt: produziert ein Teil Überschüsse, dann muss jemand anderer ein Defizit erzeugen. Das wären dann Spanien, Frankreich und Portugal. Dank einer wirklich idiotischen Politik in den Jahren 2011 und 2012, in der die Prinzipien der Buchhaltung eines Fleischerladens auf eine multinationale Makroökonomie übertragen wurden, namentlich ist hier der „Europäische Fiskalpakt“ zu nennen, ist es nun niemandem mehr erlaubt, ein Defizit auflaufen zu lassen. Tatsächlich schickt die Europäische Kommission gerade jetzt neue Mahnbriefe an Spanien, Frankreich und Irland aus, um diese zurück auf den Austeritätszug zu holen. Folglich haben wir nun eine Welt, in der die Anpassung an die deutschen Überschüsse nicht die eigenen Defizite sind, sondern jeder, der nicht eine exportorientierte Wachstumsökonomie hat, muss eine dauerndes Austeritätsbudget fahren, damit die Deutschen und Osteuropäer weiterhin gut mit ihren hohen Exporten leben können. Das ist ein Rezept für den populistischen Gegenschlag, das von den EU-Institutionen selbst verfasst wurde.

Manche halten den Brexit für eine gute Sache, weil Großbritannien nun eine strahlende Zukunft als ein Seeräubernest hat. Zumindest scheint es, dass manche Tories dieses Konzept verfolgen, wenn sie von den Vorteilen des Brexit reden. Keine Reglements mehr und keine Fragen an die Investoren über die Herkunft ihres Vermögens. „Der Londoner Finanzdistrikt: ein Ort, wo niemand Fragen stellt …“ Neben dem Nonsens und all der Xenophobie der Kampagne, glauben Sie eigentlich an eine ökonomische Idee hinter dem Brexit

Ich war vor kurzem auf einer Konferenz und saß dort auf einem Panel mit führenden Brexiteers, die ganz genau dieses Argument gemacht haben. Einer von ihnen sagte zu mir: „Sie wissen doch, dass insbesondere die Franzosen EU-Reglements benutzen, als nichttarifäre Handelshemmnisse, um UK-Exporte aus Frankreich fernzuhalten?“ Worauf ich antwortete: „Ja, und sobald ihr aus der EU seid, werden sie tatsächliche tarifäre Handelshemmnisse einrichten.“ Kurz gesagt, da wird überhaupt nicht viel nachgedacht. Der britischen Regierung wurde ein Resultat übermittelt, mit dem sie sich nie hatte beschäftigen wollen, und die Sache wird schlecht ausgehen, weil die EU das Schicksal Großbritanniens nutzen wird, um andere im Club zu halten. Die Tragödie dabei ist, dass Großbritannien in der bestmöglichen Lage war. Sie waren im Club und somit in der Lage, die Regeln mitzubestimmen, und gleichzeitig wären sie niemals dem Euro beigetreten, wodurch sie ihren übergroßen Finanzsektor mittels einer „Hedge“-Währung betreiben konnten, die zwischen US-Dollar und Euro angesiedelt war. Der Immobilienmarkt und die Geldwäsche kamen noch als Bonus obendrauf. Jetzt haben sie sich in eine Lage hineingewählt, in der jedes zukünftige Ergebnis schlechter sein wird, als das vor der Wahl. Nein, es gibt keine ökonomische Idee. Es gibt nur eine ökonomische Ideologie, die eine Art „Lettland mit Airbags“ vor der Küste Frankreichs errichten will. Allerdings, Großbritannien ist immer noch ein großer Wirtschaftsraum. Die Flügel des Airbus werden weiterhin in Wales produziert werden (mit sogar noch günstigeren Post-Brexit-ArbeiterInnen). Der FOREX-Devisenmarkt wird nicht nach Frankfurt wechseln, weil London einfach unterhaltsamer ist. Das Leben wird weitergehen.

Ohne Frage zirkulieren gerade ungeheure Geldmengen in der Welt und dieses Geld muss irgendwo hin. Beispielsweise wissen wir, dass tausende Mitglieder der chinesischen KP Milliarden an US-Dollar gestohlen haben und das Geld im Ausland verstecken. Geld, das den Wohnungsmarkt in den USA und GB flutet. Die Spaltung in diesen Märkten wird immer größer: Diejenigen, die bereits Eigentum besitzen, werden reicher, indem sie nichts tun, und diejenigen, die Eigentum erst erwerben wollen, können es mit ihren niedrigen Löhnen nicht mehr bezahlen. Was kann gegen diese Entwicklungen getan werden, die einen enormen Einfluss auf die schwindende Solidarität haben?

Wie immer könnte viel getan werden, aber fast nichts davon wird passieren. Es wäre einfach, dies zu stoppen. Einfach ausländischen Besitzer ohne ständigen Wohnsitz im Land eine 100 %-Steuer auf deren Besitz geben. Diese wäre höher als alle Steuern, die sie in ihrem Heimatland zahlen müssten, und würde somit das Zahlen von Steuern befördern. Das Problem ist, diese Steuer müsste auf globalem Level eingeführt werden. In Kanada wurde eine solche Steuer (obwohl mit niedrigerer Rate) in Vancouver im Jahr 2015 eingeführt. Das Ergebnis? Die Preise in Toronto gingen 2016 um 30 % rauf. Kapital ist wie ein Fluss. Seine Richtung kann sehr wohl beeinflusst werden, aber es ist fast unmöglich, ihn zu stoppen. Mehr noch, aus der Sicht der an Bargeld knappen Regierungen, stellt sich die Frage: Was soll schlecht sein an Ausländern, die nicht im Land wohnen, keine Ressourcen verbrauchen, ihre Kinder nicht auf die örtlichen Schulen schicken und dennoch mehr als 10.000 Dollar im Jahr pro Wohneinheit an Steuern bezahlen? Und aus der Sicht derer, die bereits Häuser besitzen: Was soll schlecht daran sein, wenn ihre Immobilie bis zu 30 % Wertsteigerung im Jahr erfährt? Das Falsche liegt im Problem einer klassischen fallacia compositionis, dem Trugschluss der Verallgemeinerung: Was auf lokaler Ebene rational ist, ist auf globaler desaströs. Also, es wird sich nicht viel ändern.

Beim Blick auf die anstehenden Wahlen in Österreich und Deutschland scheint sich eine allgemeine Bereitschaft zu zeigen, jene PolitikerInnen zu wählen, die die miesen Sachen halt machen, ohne viel darüber zu reden. Einen Zaun errichten, um die fliehenden und verzweifelten Moslems aufzuhalten, ein Kontrollregime für die Armen, das Wegsperren von Drogenabhängigen und Bettlern und dergleichen mehr. Jeder weiß, es ist irgendwie „falsch“, aber alles andere wäre beängstigend. Ihr Konzept des „globalen Trumpismus“ scheint dies anzusprechen, weil es aufzeigt, wie rechte und auch linke populistische Bewegungen „opportunistische Idioten“ in den Vordergrund stellen, die die wahre Komplexität der Lage verschweigen. Liegt der Erfolg dieser Populisten darin, dass sie gewissermaßen an das innere Kind appellieren, das sich eine simplere Welt wünscht?

Das wäre mir ein wenig zu psychoanalytisch. Ich habe mein inneres Kind vor Jahren schon aufs Internat geschickt. Ich würde die Sache lieber so ausdrücken: Wir leben in einer hypermediatisierten Welt. Fernsehen ist Oldschool. Facebook und Google sind die Nummer eins und zwei unter den Nachrichtenanbietern, ohne überhaupt Nachrichtorganisationen zu sein. Eine Kultur des „Hauptsache es fließt Blut“ durchdringt alle Medien. Angst ist das Produkt einer Manipulation. Nehmen wir nun diese Information und bedenken, dass in allen OECD-Ländern die Alten die Jungen im Verhältnis 2:1 zahlenmäßig übertreffen und erstere nun ängstlicher werde, je älter sie sind. Daraus resultiert eine Sehnsucht nach den „guten, alten Tagen“, als alles noch simpler war. Das ist die Nostalgie des Populismus.

In den 1920er-Jahren gab es innerhalb der deutschen KP die Debatte über das Verhältnis der „sozialen Frage“ zur „ideologischen Frage“, also ob eine kommunistische Partei sich auf die Ökonomie konzentrieren und die Gründe für die Verelendung der ArbeiterInnen in den Vordergrund rücken solle oder ob der Kampf gegen falsche Ideologien wie den Nationalismus entscheidender wäre. Bekanntermaßen konzentrierte man sich auf die soziale Frage und machte sogar Kampagnen gemeinsam mit den Nazis. In Ihrer Forschung haben sie aufgezeigt, dass die Faschisten eine Wirtschaftsordnung errichten konnten, die bescheidene Verbesserungen für viele bewirkten (und großen Reichtum für wenige), und dass diese Ordnung in gruseliger Weise den Krieg überdauern konnte. Zwar wurde im Jahr 1945 der offenbare Wahnsinn des Nationalsozialismus korrigiert – von den Vernichtungslagern über die Angriffskriege bis hin zum vollständig militarisierten Führerstaat – aber die Kartellbildung der 1930er-Jahre wurde beispielsweise beibehalten. Dies wurde von den Architekten der sozialen Marktwirtschaft Walter Eucken und Wilhelm Röpke ja auch so artikuliert, die den Beginn des erfolgreichen Neoliberalismus in den 1930er-Jahren ansetzen. Hier zeigt sich ein Leitmotiv für viele PolitikerInnen und ÖkonomInnen zu zeigen: Die Wirtschaft verlangt gewisse Vorgaben und an denen gilt es nicht zu rütteln. Sie geben vor, frei von Ideologien zu handeln (und damit ihren zu folgen), um das Beste für die „eigenen Leute“ zu erreichen. Ist diese Spaltung von Ökonomie und – sagen wir mal „Moral“ nicht auch heute noch das entscheidende Problem?

Ich bin mir nicht ganz sicher, ob man notwendig an den Ausgangspunkt, der in Ihrer Frage anklingt, zurückkehren muss, um an den Punkt zu gelangen, zu dem Sie hinwollen. Grundsätzlich ist nichts Falsches an Nationalstaaten und vielleicht auch einer staatsbürgerlichen Form des Nationalismus. Beispielsweise war ich im Jahr 2006 in Deutschland bei der Weltmeisterschaft. Ich war wirklich gerührt von den Szenen in denen junge Deutsche sich umschauten, um sich die Erlaubnis von den anderen zu holen, damit sie sich hinzustellen konnten, um die Nationalhymne zu singen, wenn „die Mannschaft“ auf das Feld lief. Also um genau das zu tun, was alle anderen Länder auch machen. Die (neo-)liberale Obsession mit dem Individuum prallt stets gegen die Realität von Gruppenidentitäten. Diese werden gerade dann wichtig, wenn Menschen sich in Stress und Ungewissheit befinden. Frau Thatcher mag gesagt haben, so etwas wie eine Gesellschaft gäbe es nicht (augenscheinlich hat sie es nie gesagt, aber tun wir einfach einmal so, um das Argument zu entwickeln), aber Gesellschaften offenbaren sich als kollektive Identitäten in den Momenten, wenn sie unter Druck geraten. Es ist bedeutsam, diesen Punkt einzuräumen, damit die Kräfte, die hier am Werk sind, in einer progressiven Weise gestaltet werden können. Ansonsten werden sie Opportunisten und autoritären Politikern zur freien Verfügung gelassen, um die Gesellschaft in eine xenophobe Richtung zu entwickeln. Demokratie ist national. Kapital ist global. Wenn jemand nicht da ist, um das Beste für die „eigenen Leute“ zu erreichen – so wie diese eben durch das eigene Elektorat definiert werden – weshalb ist er dann überhaupt da?

Eine letzte Frage. Wir sind in einem ziemlichen Schlamassel und es ist schwer, optimistisch mit Europa zu sein. Dennoch: Gibt es einen Ratschlag für Jeremy Corbyn? Und was halten Sie überhaupt von dem Labour Manifesto? Ist das ein Ansatz, um der Sozialdemokratie wieder Bedeutung zu geben?

Ich denke, es ist ein großartiges Minderheitenprojekt. Das Problem sind nicht die Ideen. Das Problem ist der Führungsstil. Jeremy erscheint vielen BritInnen nicht als glaubwürdiger Anführer. Das gleiche mit Miliband zuvor. Persönlichkeit und Führungskraft bedeuten gleichviel wie die Politik. Die Ideen sind gut, aber der Überbringer verkörpert nicht die Glaubwürdigkeit für eine Wählerschaft, die unter einer Diät aus Angst und Austerität darbt.

Vielen Dank für dieses Gespräch.